"Das Neue kommt in die Welt durch konkrete Menschen"
Die Übernahme eines Gesprächs von Sebastian Jüngel mit Angelika Schmitt, David Marc Hoffmann und Philip Kovce in "Anthroposophie weltweit" vom Januar 2025. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Anfang April 2025 übernehmen Angelika Schmitt und Philip Kovce von David Marc Hoffmann die Leitung des Rudolf-Steiner-Archivs in Dornach (CH). Philip Kovce ist forschender Ökonom und Philosoph sowie vielseitig tätiger Publizist; Angelika Schmitt ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und ausgebildete Zirkusartistin.
Sebastian Jüngel Ihre Arbeit basiert auf überlieferten Materialien und damit gewissermaßen auf Vergangenem. Inwiefern spielt dabei Neues eine Rolle, sei es unerwartet gefundenes Material, sei es das Einbringen neuer Methoden – oder ganz anderes?
David Marc Hoffmann Das Rudolf-Steiner-Archiv bot und bietet mit seinem Bestand immer Möglichkeiten für Neuentdeckungen – allein schon deshalb, weil niemand alle Bestände kennt. Jüngst haben wir etwa wichtige, bisher unbekannte Dokumente zu Rudolf Steiners freimaurerischer Tätigkeit gefunden. Diese sind inzwischen im Rahmen der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe publiziert worden (GA 265a), und auch unser aktuelles Archivmagazin widmet sich dem Thema.
Vom analogen ins digitale Jahrhundert
Jüngel Kommt nach dem Abschluss der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe gegen Ende 2025 noch Neues vom Rudolf-Steiner-Archiv?
Hoffmann Doch, gewiss. Die rund 1 300 Regalmeter Archivalien auf einem Archivportal mit digitalem Lesesaal kontinuierlich zu erschließen und zugänglich zu machen, wird eine riesige Neuerung sein, die Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Der Abschluss der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe bedeutet nicht, dass alle Bestände des Archivs veröffentlicht wären.
Philip Kovce Selbstverständlich werden wir weiterhin Neues ans Licht der Öffentlichkeit bringen – auf neuen Wegen. Die Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe mit ihren rund 400 gedruckten Bänden stammt ja noch aus dem vergangenen, wenn man so will analogen Jahrhundert, während sich die Forschungslandschaft inzwischen längst digitalisiert hat.
Angelika Schmitt Zwar gibt es die Gesamtausgabe inzwischen auch online, dennoch liegt hier ein größtenteils unbeackertes Feld vor uns, das vom Archiv bestellt und mit seinen Materialien bespielt werden sollte. Nur so kann die Steiner-Forschung medial auf der Höhe der Zeit und in der Gegenwart präsent sein.
Noch gibt es Schätze wie den Nachlass von Marie Steiner zu entdecken
Kovce Außerdem haben wir uns in der Vergangenheit aus guten Gründen vorrangig dem Werk Rudolf Steiners zugewendet und mussten alle anderen Nachlässe, etwa den von Marie Steiner, vernachlässigen. Auch hier gibt es also noch viel zu tun und zu entdecken.
Jüngel Wie lässt sich aus dem Material, das das Rudolf-Steiner-Archiv bisher erschlossen hat, Neues schaffen?
Schmitt Das Neue kommt in die Welt durch konkrete Menschen *. Die Rezeption der Ideen Steiners und ihre Umsetzung im wissenschaftlichen, künstlerischen und sozialen Leben kann nur aus der Wechselwirkung zwischen seinem Werk und lebendigen Menschen geschehen. Unsere Aufgabe als Archiv ist es, diese Wechselwirkung durch eine umfassende und ansprechende Zugänglichmachung des Nachlasses zu ermöglichen.
Kovce Archivalien sind schlafende Riesen, die die Gegenwart der Vergangenheit, ja womöglich auch die Gegenwart der Zukunft zeigen, wenn man sie zu wecken weiß. Je nachdem, welche Fragen wir diesen Riesen ins Ohr flüstern, bleiben sie stumm oder beginnen zu sprechen. Das ist also die große Kunst: Riesen-Fragen zu stellen, denen es gelingt, alten, toten Materialien neues, zukünftiges Leben einzuhauchen.
Hoffmann Wir dürfen aber auch nicht vergessen: Seit 1961 widmet sich das Archiv vordringlich der Herausgabe der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, die im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein soll. Die Gesamtausgabe und auch das Archiv legen Rudolf Steiners Werk vor, nicht aus. Wir wollen nicht deuten, sondern Deutung ermöglichen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist übrigens längst erfüllt: Alle Archivalien sind allen Interessierten ohne Einschränkungen zugänglich.
Jüngel Das Rudolf-Steiner-Archiv steht vor einem Leitungswechsel: Was kommt auf Sie, David Marc Hoffmann, Neues zu, wenn Sie die Archivleitung nach rund 14 Jahren abgeben?
Hoffmann Der Abschied von einem faszinierenden archivalischen Universum und die glückliche Übergabe einer erhebenden, aber doch auch lastenden Verantwortung auf zwei neue Schulternpaare bringen mir viel Zeit für Reisen, Malen, Singen und das Genießen der neuen Großvaterfreuden.
Transformation zu einem Ausstellungs- und Forschungszentrum
Jüngel Und wie stellt sich für Sie, Angelika Schmitt und Philip Kovce, die neue Aufgabe dar?
Schmitt Wir haben dieses Jahr die Aufgabe, David Marc Hoffmann zu verabschieden, das Gedenkjahr zum 100. Todestag Rudolf Steiners mitzugestalten und die Gesamtausgabe zum Abschluss zu bringen. Ab 2026 wird uns dann vor allem die Transformation des Archivs von einem Editions- hin zu einem Ausstellungs- und Forschungszentrum beschäftigen. Ich denke, dass Digitalisierung und Internationalisierung sowie die Professionalisierung der Anthroposophie-Forschung wichtige Aspekte der Zukunftsgestaltung sein werden.
Kovce 2025 wird ein Jahr des Übergangs: Es endet das Jubiläumsjahrsiebt der anthroposophischen Bewegung, das mit ‹100 Jahre Waldorf› 2019 begann, und es endet eben auch die Geburt der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, die seit Rudolf Steiners 100. Geburtstag 1961 zur Welt kommt. Wir werden dieses Gedenkjahr mit einer Ausstellung und einer Gesprächsreihe feiern: mit einer Ausstellung, die Rudolf Steiners schriftliches Werk zeigt, das er selbst für grundlegend hielt, und mit einer Gesprächsreihe, die danach fragt, was uns Archivalien über Rudolf Steiners Leben und Wirken erzählen können. Auf diese Weise blicken wir 2025 zurück – und bestenfalls auch in die Zukunft.
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Quelle: https://anthroposophie.org/de
Titelbild: David Marc Hoffmann, Angelika Schmitt, Philip Kovce. Foto: Nana Badenberg
* Das Neue
Die meisten Menschen beurteilen das Neue, das ihnen entgegentritt, nach dem Alten, was ihnen schon bekannt ist. […] Wir dürfen aber einer Mitteilung, die uns zukommt, nicht gleich unsere Meinung gegenüberstellen, wir müssen vielmehr auf dem Ausguck stehen, um herauszufinden, wo wir etwas Neues lernen können. […] Selbst wenn einer der weiseste Mensch wäre, so muss er geneigt sein, mit seinem Urteil zurückzuhalten und andern zuzuhören. Dieses Zuhörenkönnen müssen wir entwickeln, denn es befähigt uns, den Dingen die größtmögliche Unbefangenheit entgegenzubringen. Im Okkultismus nennt man dies ‹Glaube›, und das ist die Kraft, die Eindrücke, die das Neue auf uns macht, nicht durch das, was wir demselben entgegenhalten, abzuschwächen.
Quelle: Rudolf Steiner: GA 54, ‹Innere Entwicklung›, 1983, Seite 215