Anthroposophie zwischen Weltoffenheit und Sektierertum
Wolfgang G. Vögele –
Seit Beginn der Coronakrise und den damit verbundenen Großdemonstrationen gegen staatliche Maßnahmen geriet der Begriff "Anthroposophie" und damit auch Rudolf Steiner verstärkt in den Fokus der medialen Berichterstattung, allerdings weitgehend negativ gefärbt. So z.B. im September 2020 bei Zeit online: "Sind das jetzt alles Nazis?" Als Entgegnung darauf ein offener Leserbrief von Peter Selg in der Wochenschrift "Das Goetheanum": Anthroposophie ist in ihrem Wesen und in ihrer Praxis antirassistisch. [1]
Es gibt durchaus auch Wissenschaftler, die davor warnen, die Schuld am sektenhaften Verhalten mancher Anthroposophen ihrem Vordenker anzulasten: "Steiner selbst war am wenigsten dogmatisch, dogmatisch sind eher die Anhänger", meint der Bildungsforscher Heiner Barz in Bezug auf die Waldorfschulen. [2] In der Tat war Steiner weder wissenschaftsfeindlich noch ein Gegner staatlicher Ordnung. Bei aller Kultur- und Gesellschaftskritik handelte er doch letztlich pragmatisch. Auch sogenannte Impfgegner können sich nicht auf ihn berufen. [3]
Die Situation 1921/1922
Vor 100 Jahren allerdings tobte in Deutschlands Intellektuellenmilieu ein erbitterter Kampf um die Anthroposophie. Bei dem Publizisten Karl Ludwig, der eine sachliche Informationsbroschüre über die Bewegung mit dem Titel "Die Anthroposophie, ihr Wesen und ihre Ziele" [4] schrieb, heißt es zum Beispiel: "Beunruhigend ist der Haß, der sich in gewissen Kreisen gegen Dr.Steiner angesammelt hat. Gegen diesen Haß, der giftige Blüten treibt, muß jeder, der blinde Leidenschaft aus unserem Geistesleben verbannen will, aufs Schärfste Stellung nehmen [5]. Aber auch Ludwig konnte das Provokative der Anthroposophie, die sich anschickte, für fast alle Lebensgebiete alternative Konzepte anzubieten, nicht übersehen: "Anthroposophie! lautet ein Ruf, der durch die deutschen Lande geht und der auch im Auslande nicht verstummen will. Er bedeutet eine Kampfansage an Gesellschaft und christliche Kirche, an Kunst und Wissenschaft, an Geistesleben und Wirtschaftsleben." Ludwig zitiert einen deutschen Philosophieprofessor: "Die Anthroposophie drängt sich bis in unsere Hörsäle. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen zu ihr Stellung nehmen!" [6].
Weitere gegnerische Stellungnahmen blieben nicht aus, wobei die schärfsten Formulierungen von politischer und von kirchlicher Seite kamen. [7]
Der völkische Publizist Paul Lehmann schrieb 1921 in seinem antisemitischen Blatt "Der Hammer": "Tatsächlich muß er [Steiner] politisch als Bundesgenosse von Deutschlands Verderbern angesehen und behandelt, deshalb auf Tod und Leben bekämpft werden." [8] Der völkische Kampf gegen Steiner – an dem sich auch Adolf Hitler 1921 mit einem Aufsatz beteiligte – erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt in einem gescheiterten Attentat in München am 15. Mai 1922. [9]
Schon 1923 wies Karl Heise in einer Broschüre auf die Urheber dieses Überfalls hin. Demnach sollte Steiner "von Nationalsozialisten […] mittels Dolches niedergestochen werden (der Dolch befindet sich in Händen der Münchener Polizei)" [10]
Aber auch in Kreisen der evangelischen Kirche läuteten die Alarmglocken, nachdem immer häufiger evangelische Pfarrer (darunter auch der angesehene Friedrich Rittelmeyer) sich offen zu Rudolf Steiner bekannten. Die Beunruhigung wurde deutlich auf einer kirchlichen Konferenz, die im Herbst 1922 in Berlin stattfand. Dabei wurde versucht, eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Anthroposophie zu finden, die man als eine "diabolische" Macht bezeichnete. Eine Einigung konnte zwar nicht erzielt werden, doch am Ende wurde eine Parole ausgegeben, die an das genannte völkische Zitat erinnert: "Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben. Die Seite wird siegen, die sich vom Heiligen Geist leiten läßt." [11]
Das 21. Jahrhundert beginnt
Wie es heute mit der anthroposophischen Bewegung steht, wurde bereits angedeutet. Ihre Erfolge in den Praxisfeldern sind nicht zu leugnen, weswegen sie gelegentlich als "Großmacht" im alternativkulturellen Milieu etikettiert wurde. [12] Die "Lehre" und die Person ihres Begründers bleiben indessen hoch umstritten. Besonders die sogenannte Skeptikerbewegung bekundet ihre Gegnerschaft auf diversen Internetseiten. Sie wirft den Anthroposophen Rassismus und eine antidemokratische Gesinnung vor. Die Anthroposophie sei eine menschenverachtende Ideologie, weswegen Behörden und Gesetzgeber anthroposophische Schulen, Kliniken usw. streng überwachen sollten. [13]
Steiners Spagat zwischen Esoterik und Weltoffenheit
Viel zu wenig bekannt ist, dass Rudolf Steiner einen permanenten Kampf gegen sektiererische Neigungen seiner Anhänger führte. So rügte er 1921 deren Dilettantismus, Hochmut und die Abkapselung von der Welt. "Das Sektiererische hat ja die Eigentümlichkeit, daß es zwar oftmals hochnäsig und mit einer großen Geringschätzung von allem spricht, was außerhalb ist, aber von dem, was außerhalb ist, nicht viel versteht, daß es sich eben abschließen will, isolieren will. Das kann bei uns durchaus nicht auf die Dauer durchgeführt werden. Wenn unsere Bewegung ernst genommen werden will, ist es durchaus notwendig, daß nicht in derselben Weise über dieses oder jenes fortgeschwätzt werde, wie es vielfach üblich war […] Ich werde natürlich […] in diesen Dingen viel strenger werden müssen, als das bisher bloß aus einem gewissen Wohlwollen gegenùber der Mitgliederschaft geschehen ist." [14]
Manche Freunde Steiners, wie die Publizisten Alexander von Bernus und Friedrich Lienhard zogen sich wegen dieser Missstände von der anthroposophischen Gesellschaft zurück. Das galt auch für den Dichter Manfred Kyber, der Steiner vorwarf, den rufschädigenden Tendenzen nicht konsequent genug entgegenzutreten und forderten einen radikalen Kurswechsel, ja sogar eine völlige Auflösung der anthroposophischen Gesellschaft. [15]
Warum Steiners Kritik und seine Forderung nach mehr Weltoffenheit letztlich nicht viel bewirkte, lässt Rom Landau erahnen, der auf die zu große Menschenfreundlichkeit Steiners hinweist: "Unfortunately, his faith in people, – perhaps the only fundamental mistake of Steiner’s whole live – proved once again wrong." 16. [Rom Landau: God is my Adventure. London 1939, S. 73] Gemeint war damit Steiners Hilfsbereitschaft, mit der er, auch als er schon schwer krank war, Hunderte von Besuchern empfing, um sie in ihren Sorgen und Nöten zu beraten. Und es darf vermutet werden, dass dies seinem ohnehin bereits angeschlagenem Gesundheitszustand sehr abträglich war und damit auch seinen gesundheitlichen Zusammenbruch beschleunigte.
Foto: Das erste Goetheanum (Aquarell Hermann Linde, gemeinfrei) )
[1] Annika Brockschmidt: Sind das jetzt alles Nazis? in "Zeit online" 1.9.2020Als Entgegnung darauf der offene Leserbrief von Peter Selg: Anthroposophie ist in ihrem Wesen und in ihrer Praxis antirassistisch. Das Goetheanum, 11.9.2020
[2] news4teachers.de vom 29.1.2019
[3] Themen der Zeit: Pragmatismus vs. Fanatismus, 26.2.2021
[4] Karl Ludwig: Die Anthroposophie, ihr Wesen und ihre Ziele. Stuttgart 1922
[5] Ludwig, S.14
[6] Ludwig, S.5
[7] Vgl. Rudolf Steiner und seine Gegner.GA 255b
[8] zit. nach Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Stuttgart 2004, S.101
[9] ausführlich dokumentiert im Archivmagazin Nr. 8, Dornach Dezember 2018
[10] Karl Heise: Der katholische Ansturm wider den Okkultismus…1.und 2.Auflage, Leipzig 1923 S. 94
[11] zit. nach GA 259, S.809
[12] Helmut Zander: Die Anthroposophie.Paderborn 2019, S.8
[13] Vgl.Peter Selg: Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismusvorwurf. Arlesheim 2020
[14] Dornach, 8.2.1921, GA 203, S.205 f.
[15] vgl.Wolfgang G.Vögele: Kritik aus der Peripherie (erscheint in der Ausgabe 3/2021 der Zeitschrift "die Drei")
[16] Rom Landau: God is my Adventure. London 1939, S. 73
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Was soll ich dazu sagen? Die Menschheitsentwicklung verläuft in Schüben: drei vor und wieder zwei zurück. Wenn ich zurück kenne, wo der Zeitgeist noch zu meiner Kinderstubenzeit stand – und heute, wo alle Werte hinterfragt werden DÜRFEN. Aber bis wir vom reinen Glauben zum (Hintergrund-) Wissen vorangeschritten sind – das braucht seine Zeit. Derzeit richtet sich die Gewohnheit des Glaubens auf die Verlautbarungen von sogenannten Experten, wobei einige inkognito vorangehen und die anderen – mehr unbewusst als bewusst einem Herdentrieb folgend – ins gleiche Horn blasen. Wir alle kennen diesen (Perseveranz-) Effekt.
Das was der eigenständigen Wahrnehmung durch unsere Sinne am nächsten kommt, wird deshalb am stärksten bekämpft, weil es den neuzeitlichen Experten-Glauben der Einsilbigkeit überführt und folgedessen als geistig umnebelt entlarvt. An Sachargumenten können es die Naturwissenschaftsgläubigen nicht mit der Geisteswissenschaft aufnehmen. Das sehen wir daran, wie sie durch Verächtlichnachung Land zu gewinnen suchen. Arme Irre, die sich nicht bewusst machen wollen, dass die Entwicklung nicht stehen bleibt dort, wo sie in der Steinzeit angefangen hat:
Im Nützlichkeitsempfinden.
Wunderbar! Der obenstehende Kommentar von Alfons Breuer-Kolo zeigt alle Wesenszüge, die Steiner bekämpft hat – wie Vögele in seinen Ausführungen zeigte.
Um die Kuh "Sektierertum" vom Eis zu holen, ist es zu kurz gegriffen, sie einzig bei Steiners Anhängern zu verorten. Schon in Steiners vor-theosophischer Zeit zeigt sich aus heutiger Sicht deutlich, dass sein wissenschaftliches Grundverständnis weniger unangreifbar war, als in der „Szene“ meist angenommen wird. Im universitären Milieu beheimatete Forscher diagnostizieren jedenfalls – mit mehr oder weniger Berechtigung –: selektive Kant-Rezeption, einseitige Goethe-Interpretation, idealisierendes Nietzsche-Verständnis, unkritische Haeckel-Rezeption, schlampiger Umgang mit Zitaten, Nicht-Wahrnehmung anderer philosophischer oder spiritueller Ansätze, mit denen eine Kooperation vielleicht möglich gewesen wäre. In den Vortragsmitschriften findet man teilweise heftige, oftmals irritierende, Ausfälle gegen Andersdenkende und Kritiker.
Das Sektierertum theosophischer, später: anthroposophischer Kreise hat Steiner zwar beklagt, aber offensichtlich nicht immer konsequent genug bekämpft. Mag sein, dass er gehofft hat, dass sein Schulungsweg letztendlich dazu führen würde, dass seine Anhänger'innen ihre sektiererischen Verhaltensweisen in den Griff bekommen würden. Doch in der Rückschau muss man wohl sagen, dass das nicht in ausreichendem Maße eingetreten ist. Liegt das nun nur an den Anhänger:innen? Oder hat Steiner selbst mit dazu beigetragen? Müsste man nicht von einem Eingeweihten seiner "Preisklasse" in dieser Hinsicht mehr erwarten? Zu große Toleranz gegenüber Sektierertum auf seine Menschenfreundlichkeit zurückzuführen, scheint mir da zu dünn.
Solche Fragen klar zu stellen und kritisch aufzuarbeiten, scheint mir wichtig für die Glaubwürdigkeit der Anthroposophie, ihre Dialogfähigkeit mit anderen gegenwärtigen Schulungsangeboten und deren spezifischem Potenzial in Lebens- und spirituellen Fragen.
Die atavistische Tendenz, sich zurück zu sehnen nach den Zeiten geistiger Führung wurde wohl zu Steiners Lebenszeit ähnlich gepflegt, wie das auch heute noch gut sichtbar in Krisensituationen – tatsächlichen wie scheinbaren – der Fall ist. Im Materialismus gefangen suchen die Menschen nun nicht mehr so sehr die Führung in der geistigen Welt, sondern projizieren ihr Hoffen auf eine menschliche Leitfigur. Und wie sehr diese auch bestrebt sein mag, einen Entwicklungweg zu vermitteln, welcher über ein so geartetes, regredierendes Verhalten hinaus zu führen helfen könnte, so ist es doch der gegenwärtigen Entwicklung des Menschen immanent, dass die Entscheidung dafür aus dem Menschen selbst erwächst. Das ist für mich die zentrale Bedeutung der Anthroposophie für die Gegenwart und wurde auf vielfältige Weise von Steiner auch so transportiert. Es ist sowohl der Reife, als auch der Bereitschaft des einzelnen Menschen geschuldet oder anzulasten, inwieweit er die dargebotenen Möglichkeiten ergreift, um sich zu einer Freiheit auf zu schwingen, mit welcher sich Diskussionen über die Verantwortung für diese oder jene Auswirkungen der Arbeit eines anderen, in diesem Fall von Rudolf Steiner, erübrigen.
Es ist eine aufschlussreiche Beobachtung, dass so geartete Anschuldigungen, wie im Artikel angeführt zumeist von Personen stammen, die entweder ihr eigenes Bild von der Welt bedroht sehen, oder enttäuscht darüber sind, dass ihre Leitfigur nicht das hält, wozu sie sie stilisiert und für sich benutzt haben.