Spurensuche I.

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24.06.2016

von Wolfgang G. Voegele

"Beinahe ein echter Wiener"

Die letzte große öffentliche Kundgebung der Anthroposophen zu Lebzeiten Steiners war der so genannte „West-Ost-Kongress“, der unter dem Zeichen der Völkerverständigung in Wien zu Pfingsten 1922 stattfand. Rudolf Steiner gab damals eine Reihe von Interviews, die heute auch in anthroposophischen Kreisen nahezu vergessen sind. [1] Dazu gehört auch das folgende Gespräch mit einem Mitarbeiter der "Neuen Freien Presse", das am 1. Juni 1922 in Wien erschien. [2] 
In diesem Gespräch bestätigt Steiner hier etwas, was er andernorts dezidiert verneinte: dass es nämlich die weltanschauliche „Sinnkrise“ nach dem Weltkrieg gewesen sein soll, die der anthroposophische Bewegung den starken Zulauf beschert habe.  Bemerkenswert auch seine Aussage, dass seine übersinnlichen Forschungsergebnisse weniger wichtig seien als der dorthin führende Weg und seine Behauptung, dass Anthroposophie auch den „interkonfessionell-religiösen Bedürfnissen“ entgegenkomme. Auch betont er das Zeitgemäß-Moderne der Anthroposophie (in ihrer wissenschaftlichen Methodik) im Gegensatz zur theosophischen Bewegung. Steiner war in diesem Gespräch sichtlich bemüht, sich als international anerkannter Wissenschaftler darzustellen. Denn seine deutschen Kritiker sprachen ihm sowohl Wissenschaftlichkeit als auch Christlichkeit weitgehend ab. Auch seine persönliche Sicherheit in Deutschland war nach einem politischen Attentatsversuch von rechten Kreisen nicht mehr gegeben. Um so mehr dürfte es ihn befriedigt haben, im "Ausland" noch auf offene Ohren zu stoßen. Das "Gespräch mit Dr. Rudolf Steiner" wurde unterschrieben von Dr. Kurt Sonnenfeld [3] 

Gespräch mit Dr. Rudolf Steiner

"Dr. Rudolf  S t e i n e r ist vom Auftakt des Anthroposophenkongresses durchaus befriedigt: 'Die anthroposophische Bewegung hat in Wien sowohl bei den Laien als auch beim wissenschaftlichen Publikum eine starke Anhängerschaft gefunden,' äußert er sich im Gespräch mit einem unserer Mitarbeiter. 'Es sind eben infolge des Weltkrieges viele Menschen an den alten Kulturströmungen irre geworden und suchen nach neuen Impulsen und nach einer neuen Sicherheit für das Leben. Ich fasse meine Lehre keineswegs als ein System, sondern als eine Art Forschungsmethode auf. Das Ergebnis ist mir vorläufig weit weniger wichtig als die Betrachtungsweise, der Weg . . . Es liegt mir aber vollständig ferne, eine neue religiöse Sekte zu begründen. Ich taste keine bestehende Religion an, glaube aber, daß in der wissenschaftlichen Erkenntnis übersinnlicher Vorgänge auch das tiefste interkonfessionell-religiöse Bedürfnis der Menschen seine Befriedigung finden wird.

Meine Weltanschauung hat sich aus einer Synthese meiner Goethestudien und meiner naturwissenschaftlichen Forschungen entwickelt. Ich sah mich veranlaßt, statt der rein mechanischen eine seelisch-geistige Forschungsmethode zu wählen, die aber dennoch durchaus objektiv bleibt und sich vor den Naturwissenschaften sehen lassen kann.  Ich bin nicht durch äußere, sondern durch innere Erlebnisse zur Anthroposophie geführt worden — ich möchte sagen: die Naturwissenschaften haben Fragen an mich gerichtet, die ich beantworten mußte . . . Daß sich viele Wissenschaftler skeptisch verhalten, begreife ich ganz gut, da ich ja selbst Wissenschaftler bin und sehr genau weiß, welche inneren Hemmungen man überwinden muß, bevor man in der Anthroposophie Antwort auf seine Fragen findet. Dennoch baue ich darauf, daß diese Lehre einmal so felsenfest begründet sein wird, wie das kopernikanische System. Es handelt sich mir um eine exakte Formulierung übersinnlicher Probleme und nebuloser Mystizismus liegt mir gänzlich fern. Wir forschen im Geiste des Neuen, während die Theosophie nur eine Aufwärmung alter Wahrheiten ist.'

Dr. Steiner war jetzt in England: 'Am 23. April habe ich in Stratford beim Shakespeare-Fest in deutscher Sprache eine Rede über Shakespeare und die neuen Ideale gehalten. Meines Wissens war ich außer Einstein der einzige, der seit dem Kriege in England öffentlich Deutsch gesprochen hat. Auch in London, wo ich über anthroposophische Probleme sprach, wurde ich sehr herzlich aufgenommen.
Wie sehr ich mich über mein Wiedersehen mit Wien freue, brauche ich wohl nicht erst zu sagen, da ich ja ein Niederösterreicher bin. Daß ich vor sechzig Jahren in einem ungarischen Städtchen zur Welt gekommen bin, ist ein reiner Zufall, da mein Vater als Südbahnbeamter dort stationiert war. Aber meiner Abstammung nach bin ich ein echtes Waldviertler Kind, also beinahe ein Wiener.' 

Dr. Kurt Sonnenfeld" 

1. Wolfgang G. Voegeles Sammelband „Der andere Rudolf Steiner“ (Dornach 2005) enthält nur einen Teil dieser Interviews. 
2. Neue Freie Presse, Wien, Nr. 20745, Wien, Donnerstag, 1. Juni 1922, S.2-3
3. Der bekannte Schriftsteller, Journalist und Kritiker Dr. phil. Kurt Sonnenfeld (1893-1938), der sich in seinen literarischen Arbeiten u.a. mit der jüdischen Identität und seiner Bedrohung durch den Nationalsozialismus beschäftigt hatte, nahm sich wenige Tage nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich mit seiner Frau und seinem Vater das Leben.

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