Sahra W. und die „Lifestyle-Linken“

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Sahra Wagenknechts Buch wirbt für mehr Gemeinsinn und Gerechtigkeit

von Michael Mentzel –
Auf den ersten Blick mag Sahra Wagenknechts Buch wie eine Generalabrechnung mit all ihren Gegnerinnen und Gegnern vor allem in der eigenen Partei erscheinen. Aber auch jene, die geglaubt haben, die Ansichten dieser Politikerin mal eben so zu ihren Gunsten übernehmen zu können, werden nach der Lektüre vielleicht feststellen, dass es wohl doch nicht so einfach ist, Sahra Wagenknecht mit einem Federstrich in diese oder jene Schublade stecken zu können. Was vor dem offiziellen Erscheinen ihres Buches "Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt", durch einen empörungsschwangeren Blätterwald und die sozialen Netze rauschte, war zum größten Teil ein Aufguss all jener in den letzten Jahren gegen sie erhobenen Vorwürfe, die im wesentlichen darin bestanden, dass ihre Analysen und Einschätzungen des Politikbetriebs eine bedenkliche Anschlussfähigkeit zu rechts-identitären Positionen aufweisen würden. 

Das Buch erschien Mitte April 2021, steht inzwischen noch auf Platz vier der Spiegel-Bestsellerliste im Bereich Sachbuch und es sind inzwischen zahlreiche Rezensionen erschienen, die die oben genannten Vorab-Zuweisungen zugunsten einer objektiveren Betrachtungsweise zurechtrücken. Denn Wagenknecht deutet zu Recht und vor allem sehr nachvollziehbar und überprüfbar auf die Umstände hin, die dazu geführt haben, das von vielen Menschen in Deutschland die Linke (aber auch Grüne) inzwischen als Parteien wahrgenommen werden, deren Mitglieder sich mehr auf ihre eigenen Wohlfühlthemen und ihren "Lifestyle" konzentrieren, als auf das, was Menschen benötigen, die auf Grund der unterschiedlichsten Umstände in unserer Gesellschaft zu denen gehören, die "nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen". Für diese ist der Begriff Solidarität inzwischen zu einem Fremd- oder besser gesagt, einem Hohlwort geworden. Sahra Wagenknecht klärt die Begriffe. Linke, Rechte, Liberale, Linksliberale. Linke Liberale und zu guter Letzt dann auch die Illiberalen. 

Die Selbstgerechten

Was aber sind nun die "Selbstgerechten"? Sahra Wagenknecht geht diesem Begriff genauer auf den Grund und kommt zu dem Ergebnis, dass die heutigen Linksliberalen an echten politischen Konzepten kein Interesse und nur ihr eigenes urbanes, kosmopolitisches und individuelles Milieu im Blick haben und damit die gesellschaftliche Debatte dominieren. So schreibt sie: "Unsere angeblich offene Gesellschaft ist von Mauern durchzogen. Soziale Mauern, die Kindern ärmerer Familien den Zugang zu Bildung, Aufstieg und Wohlstand viel schwerer machen als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.Und Mauern der Gefühlskälte, die jene, die gar kein anderes Leben kennen als das im Überfluss, vor denen abschirmen, die glücklich wären, wenn sie einmal ohne Existenzangst leben könnten." Ihr Fazit lautet dementsprechend, dass wesentliche Fragen von Gemeinsinn und Zusammenhalt ausgeblendet blieben und für den selbstgerechten Teil unserer Gesellschaft weitgehend an Bedeutung verlören.

Sahra Wagenknecht belässt es nicht bei den Charakterisierungen der genannten Begriffe, sondern sie arbeitet in klaren und verständlichen Worten heraus, was sie jeweils darunter versteht und sie beschreibt an Hand von Beispielen ihre jeweiligen Erkenntnisse und die daraus folgenden Thesen so, dass es wohl auch für den nichtakademisch gebildeten Leser verständlich bleibt. Zwar dürfte sich bei manch wackerem Konservativen bei der Lektüre ein "so isses" entringen, während sich bei seinem linken und manchmal eben auch "selbstgerechten" Gegenpart beim Blick in seinen Spiegel wohl die Haare sträuben mögen. 

Nahezu jedes Politikfeld wird von der Autorin unter die sprichwörtliche Lupe genommen und gnadenlos analysiert. Der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Partei kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn Sahra Wagenknecht hatte es seinerzeit (2015/2016) gewagt, die Flüchtlingspolitik in einem anderen Licht zu sehen und zu beschreiben. Das allerdings lief den damaligen Harmoniebestrebungen und dem "Wir schaffen das" nach Merkel-Art ziemlich zuwider und wurde mangels einer ehrlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema politisch und medial kurzerhand in eine rechte AFD-Nähe gerückt und damit gesellschaftlich als indiskutabel abgelegt. Ähnlich wie in den heutigen Corona-Zeiten passen nachdenkliche und kritische Auseinandersetzungen nicht zu einer Erzählung, die einer vermeintlichen und von oben verordneten Alternativlosigkeit den Vorzug gibt. 
Aber, so sagt sie: "Ich hätte (…) kein Buch darüber geschrieben, wenn diese Diskussion nicht weit über die Linkspartei hinausgehen würde. Ich halte es für eine Tragödie, dass die Mehrzahl der sozialdemokratischen und linken Parteien sich auf den Irrweg des Linksliberalismus eingelassen hat, der die Linke theoretisch entkernt und sie in großen Teilen ihrer Wählerschaft entfremdet." Es gäbe nämlich längst Mehrheiten für eine andere Politik, "… für mehr sozialen Ausgleich, für eine vernünftige Regelung von Finanzmärkten und Digitalwirtschaft, für gestärkte Arbeitnehmerrechte sowie für eine kluge, auf den Erhalt und die Förderung eines starken Mittelstands orientierte Industriepolitik." 
Das klingt konservativ und ist es wohl auch, wie wir später noch sehen werden. Und weiter konstatiert sie, dass SPD und Linke der AFD zu ihren Wahlsiegen verholfen und sie damit zur führenden "Arbeiterpartei" gemacht hätten, statt die oben genannten Mehrheiten mit einem "für sie attraktiven Programm anzusprechen." 

Zur Sache

Nach dem Vorwort, in dem Sahra Wagenknecht die Grundlinien des Buches und einen wesentlichen Gehalt des Buches in knappen Worten beschrieben hat, was bei oberflächlicher Betrachtung für einen erweiterten Klappentext gehalten werden könnte, geht es im ersten Teil des Buches weitestgehend um Rassismus, die Klimadebatte, um Genderfragen und Europa, kurz: um die gesellschaftliche Diskussion unter dem Stichwort Weltläufigkeit und Sprachsensibilität. Hier kommen die "Lifestyle-Linken" ins Spiel, für die linke Politik "nicht mehr soziale und politökonomische Probleme" bedeuteten, sondern Fragen des Lebenstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten". 

Für Lifestyle-Linke hätte sich inzwischen der Begriff des Linksliberalismus etabliert, so Wagenknecht. Dieser jedoch hätte nichts mit der "geistig-politischen Strömung zu tun (hat), die früher einmal als linksliberal bezeichnet wurde." Ältere Leserinnen und Leser mögen sich hier an das Freiburger Programm der FDP und die Zeiten einer sozialliberalen Koalition mit dem Kanzler Willy Brandt erinnern. 

Zu den Überzeugungen des Lifestyle-Linken gehöre es, "den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger zu halten, den mit dem eigenen Land eher wenig verbindet." An dieser und den folgenden Aussagen wird sicher der Trigger-Alarm (Achtung! Beifall von der falschen Seite) ausgelöst. Vieles, was gesagt wird in diesem Buch, erscheint bei oberflächlicher Betrachtung einigermaßen grob gezeichnet, lässt aber bei näherer Betrachtung genügend Raum zum Nach-und Weiterdenken. 

Wenn Sahra Wagenknecht auch längst nicht alle Lifestyle-Linken in einen Topf wirft, so greift sie dennoch einen – für viele ältere Leserinnen und Leser altbekannten – Gedanken auf, dass Linke einerseits das ehrliche Anliegen haben, "sich für die Armen und Entrechteten dieser Welt einzusetzen, was die Armen und weniger Priviligierten im eigenen Land notgedrungen einschließt", diese jedoch "in der Attitüde des wohlwollenden Missionars (…) nicht nur retten, sondern vor allem auch bekehren will." 
Was möglicherweise auch einer der Gründe sein wird, weshalb links-sozialistische Parteien seit den sechziger Jahres des vergangenen Jahrhunderts – zumindest im westlichen Teil der BRD – weitgehend in der Bedeutungslosigkeit verharren. 

Der erste Teil des Buches ist der Zustands- und Gefühlsbeschreibung maßgeblicher Teile unserer Gesellschaft inklusive eines Exkurses in die Geschichte der Arbeiter und den jeweils daraus resultierenden Entwicklungen und Problemen sowie den damit einhergehenden Zeitfragen gewidmet. Weitere Themen sind "Die neue akademische Mittelschicht", "Zuwanderung – wer gewinnt, wer verliert?". Sie erläutert – durchaus diskussionswürdig – ihre Sicht auf "Das Märchen vom rechten Zeitgeist" und diagnostiziert, dass es "in den meisten Ländern der westlichen Welt keinen rechten Zeitgeist und keinen gesellschaftlichen Rechtstrend" gäbe. 
Allerdings: "Was es gibt ist ein politischer Rechtstrend, der darin besteht, das rechte Parteien stärker und einflussreicher werden. Dieser Rechtstrend ist nicht harmlos und alles andere als ungefährlich." Ihre Einschätzung und gleichzeitige Befürchtung fasst sie zusammen in dem Satz: "Aber solange die politische Linke keine glaubwürdige progressive Erzählung und kein überzeugendes politsches Programm anbietet, das nicht nur die wachsende Zahl weniger wohlhabender Akademiker anspricht, sondern auch den sozialen Interessen und Wertvorstellungen der Arbeiter, der Sevicebeschäftigten und auch der traditionellen Mitte entgegenkommt, werden immer mehr Menschen aus diesen Schichten sich entweder von der Politik abwenden oder auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine neue Heimat suchen." 

Das Gegenprogramm 

Im zweiten Teil des Buches legt Sahra Wagenknecht dar, wie ihr "Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt" aussehen und vor allem auch verstanden werden könnte. Viel ist dort von der "Nation", einem "Nationalstaat" die Rede und ruft man sich noch einmal die kritischen Stimmen ins Gedächtnis zurück, die von Wagenknechts Nähe zu rechten Positionen sprechen, wie sie von der AFD verkörpert werden, so wird spätestens hier deutlich, dass von diesen Einschätzungen nicht nur nicht die Rede sein kann, sondern dass die Autorin hier eine sehr genaue Analyse der derzeit bestehenden Verhältnisse vornimmt, die in den Fokus rückt, was eine vernünftige zukünftige Politik bewirken könnte. Hier wird deutlich, welche Kraft ein "linkskonservatives" Denken und Handeln entfalten könnte, das nicht in Schablonen eingepresst und durch Denkbarrieren eingeengt würde. 

Visionen? 

Das "Gegenprogramm" von Sahra Wagenknecht lässt kaum einen Bereich des gesellschaftlichen Spektrums außer Acht und liefert damit ein ziemlich genaues Bild der derzeitigen Realität. An dieser Stelle würde wahrscheinlich ein SPD-Urgestein wie Helmut Schmidt auf seinen Rat, einen Arzt aufzusuchen, verzichtet haben. Und Oskar Lafontaine, der Ehemann und Autor des vor fast 40 Jahren erschienenen Buches "Der andere Fortschritt" könnte am heimischen Mittagstisch vermerken: "Soweit habe ich 1985 gar nicht gedacht… " 

Zitat Oskar (1985): "In einer Gesellschaft, in der die einen viel zu kurz denken, ist der Fortschritt darauf angewiesen, daß die anderen ein Stück zu weit denken, über das unmittelbare Ziel hinaus. Die Sehnsucht, aufzubrechen »zu neuen Ufern«, ist so alt wie die Menschheit, und sie ist nicht ihr schlechtester Zug. Politik sollte stets das eine Auge aufs »neue Ufer« gerichtet haben, weil sonst das andere seine kritische Schärfe einbüßt und noch am alten Ufer die Orientierung verliert" 

Fazit 

Kaum ein mediales Minenfeld wird in diesem lesenswerten Buch ausgelassen und kaum ein Gesellschafts- oder Politikbereich kommt ungeschoren davon. Gerade in der derzeitigen politischen Landschaft, in der Klimawandel, die Genderfragen oder der vielbeschworene Rechtsruck der Gesellschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind Politiker und Politikerinnen gefragt, die sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden geben können und wollen. Das bei einem solchen Rundumschlag auch mit "Beifall von der falschen Seite" zu rechnen ist, dürfte kaum verwundern. Aber wer lesen kann und vor vor allem zulassen kann, die durch medialen Dauerbeschuss ge- und verfestigten Vorurteile einmal etwas weiter "links" liegen zu lassen und sich mit den tatsächlichen Problemen in unserem Land zu beschäftigen, dürfte bei der Lektüre des Buches, so mein Eindruck, in den allermeisten Fällen auf seine Kosten kommen. 

Sahra Wagenknecht
Die Selbstgerechten
Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt
345 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 24,95 Euro
ISBN 978-3-593-51390-4 
Campus Verlag, 14. April 2021

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