Reinhard Mey – neu entdeckt!

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von Wolfgang Herzberg

Obwohl mir, der ich in der DDR aufgewachsen bin, seit meiner Kindheit in den 1950er Jahren deutsche und internationale Volks- und Politlieder sehr wichtig für meine emotionale Werteentwicklung wurden, oft übrigens in Pro und Contra zum Realsozialismus, und ich dadurch auch später einige Songs und Rocktexte selber schrieb, so begegneten mir unlängst auf Youtube plötzlich viele Lieder von Reinhard Mey zum allerersten Mal, die ich bisher noch niemals gehört hatte! Mey konnte ja auch in der DDR erst nach dem Fall der Mauer auftreten. Ich nahm an – bisher nur durchs Radio und Fernsehen vermittelt – , dass Reinhard Mey, als Liedermacher, einige nette Hits, wie "Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein" usw. geschrieben hatte, aber als tiefsinniger, gesellschaftskritischer Singersongwriter, gar als Antikriegsliedermacher, war er mir bisher nicht wirklich bewusst begegnet. Warum wohl?  
Sicherlich, weil ich in der DDR bis 1989 lebte, aber auch, weil in den westlichen Medien seine brisanten politischen Lieder wohl bisher außerordentlich unterrepräsentiert waren und sind. Überhaupt vermisste ich dort seit langem, im Radio und Fernsehen, Sendereihen mit gesellschaftskritischen Folk- und Rocksongs aus Deutschland und der ganzen Welt. Es gab einmal eine politische, auch internationale Liederkultur, zu der ich mich, am Rande, auch zählen würde, und zwar in beiden deutschen Staaten, die schließlich Substanzielles zur Überwindung der Mauern des "Kalten Krieges" beitrugen und wichtige Impulsgeber für deutsch-deutsche Reformen gegen die dogmatischen Ost- West Verhärtungen waren. Sie wirkten damit oft auf beiden Seiten wie frühe "Mauerspechte". Es ist bisher in der Öffentlichkeit kaum bewusst, wie sich Liedermacher – und Rocker aus beiden deutschen Staaten in den zähen Nachkriegsjahren gegenseitig befruchteten. Und dazu gehörten in der DDR gerade auch die "Volkslieder demokratischen Charakters", die der jüdische Remigrant Wolfgang Steinitz schon in den 50er Jahren herausgab und schließlich auch die großartigen Songs und Friedenslieder von Berthold Brecht, sowie viele Lieder aus der Sowjetunion und schließlich das gewaltige Liedgut der internationale Folklore. 

Ich muss gestehen: mir gingen plötzlich viele Lieder von Reinhard Mey und sein überaus einfühlsamer leiser Gesang außerordentlich nahe und ich konnte mir zum ersten Mal ganz bewusst mit großer Anteilnahme sein vertrautes, freundliches, teils schalkhaftes Lächeln und seine klugen Augen und Kopfbewegungen beim Singen in den Nahaufnahmen der Videos ansehen. Ich war bei einigen seiner älteren und jüngeren Liedern von der unglaublich persönlichen und politischen Aktualität seiner Songs wirklich zu Tränen gerührt! Mey singt für mich tatsächlich wie Orpheus, dessen zu Herzen gehender Gesang mich nach langer Zeit wieder zum Weinen gebracht hat. Wann ist mir das bei einem Liedermacher oder gar bei einem Schriftsteller jemals zuvor passiert, fragte ich mich völlig überwältigt?! 

Mey hat über 500 Lieder geschrieben, bekanntlich sehr viele Schallplatten und CDs herausgebracht und weit über 1000 Konzerte gegeben, teilweise auch in Frankreich, also in französischer Sprache, wo er sogar zuerst berühmt wurde. So gelang es ihm seit den 60er Jahren, nicht nur hierzulande zu einem der populärsten und beliebtesten Liedermacher zu werden. Mir wurde jetzt erst klar, dass er aus einer singulären, alltagspoetischen Sicht "von unten", trotz seiner Popularität ein bisher vom Mainstream der Medien immer noch weitgehend unterschätzter "Bob Dylan" aus Deutschland wurde, also wirklich ein Nobelpreis verdächtiges Lebens- und Liederwerk nicht nur zur deutschen Geschichte und Gegenwart hervorgebracht hat! Sein Werk lässt sich an künstlerischer und politischer Tiefe durchaus mit dem von Heinrich Böll und Günter Grass vergleichen, und er hat beide sogar an Popularität übertroffen.

Vor allem aber wurde mir beim Zuhören und Zusehen klar, dass ich besonders nach 1989 selber ziemlich verkopft und versteinert war, dass meine Gefühle und mein Verstand oft seitenverkehrt auf dem Kopf standen, im verzweifelten Durchwursteln durch das garstige Dickicht des westlichen Alltags und seiner unsäglichen Kriege! Mey machte mir mit seinen Songs plötzlich überdeutlich bewusst,was es heißt wirklich mit Herzenswärme zu dichten, zu denken, zu singen und auch so zu leben! Diese emotionsreichen, außerordentlich klugen Chansons, sind wirklich etwas ganz Einmaliges in der künstlerischen Kultur Nachkriegsdeutschlands! Abgesehen davon, dass seine Lieder oft unglaublich witzig und voller Selbstironie sind, angesichts seiner authentischen, von Alltagserfahrungen gesättigten Texte, wie etwa der Song "Männer im Baumarkt" und viele, viele andere.

Aber es sind vor allem seine politischen, gesellschaftskritischen Lieder über die familiäre Verwobenheit seiner Mutter und seines Vaters, sowie seiner eigenen autobiografischen und familiären Erfahrungen, im oft garstigen, nicht nur Berliner Alltag deutscher Nachkriegsgeschichte, die mich tief berührt und erschüttert haben. Seine Lieder über Berlin, etwa über die "Friedrichstraße" oder seine retrospektive "Eisenbahnballade", in der er die widersprüchliche Geschichte Deutschlands seit der Industriealisierung, auf unglaublich dichte, poetische Weise besungen hat. Und es wirken gerade auch seine zärtlichen Liebeslieder auf mich wie ein genialer, emotionaler und humaner Gegenentwurf zur eiskalten Gegenwart eines latent kriegerischen und entfremdeten, ichbezogenen deutschen Alltags. Dabei werden seine Songs auf Youtube immer wieder von grässlichen Werbespots unterbrochen oder sind darin eingebettet. Auch darüber hat er ein Lied geschrieben, weil auch im Fernsehen oft künstlerisch wertvolle Filme, bekanntlich, immer wieder von nerviger Werbung unterbrochen und die Urheberrechte der Filmemacher dabei unerträglich verletzt werden. Diese nervigen Unterbrechungen durch Werbespots offenbaren die alltäglich Fratze eines alles durchdringenden Kapitalismus. 

Ganz besonders heftig aber haben mich seine ungeheuer heutigen Antikriegslieder berührt, zum Beispiel Meine Söhne geb` ich nicht", "Sei wachsam", "Friedenslied" oder "Die Waffen nieder". 

Und vor allem das Lied: "Es ist an der Zeit" von Hannes Wader, der den Text des schottisch/australischen Songwriters und Friedenaktivisten Eric Bogle (No Man´s Land oder Willie McBride) aus dem Englischen in eine kongeniale deutschen Fassung übertragen hat und das Reinhard Mey zusammen mit Hannes Wader und Konstantin Wecker gemeinsam auf einer Tournee gesungen hat. Dieses Lied ist von einer solchen aktuellen politische Emotionalität, dass kein Mensch mit Gefühl und Verstand sich angesichts der unsäglich blutigen Kriege in der Ukraine und Israel, sowie der Kriegshetze und Nato-Kriegsbeteiligung hierzulande und anderswo, gerade diesem Antikriegslied entziehen kann! 
Besungen wird ein gefallener Soldat aus dem 1. Weltkrieg, dessen namenloses Kreuz, nur mit einer Nummer versehen, unter Tausenden anderen auf einem Soldatenfriedhof in der Champagne steht, und jemand hat nur die Jahreszahl 1916 darauf gemalt. Im Refrain heißt es immer wieder: 

"Und auch Dich haben sie schon genau so belogen,
Sowie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und Du hast ihnen alles gegeben, 
Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben"

Und in der Schlussstrophe:

"Es blieb nur das Kreuz als einzige Spur. 
Für den Frieden zu kämpfen und wachsam zu sein.
Fällt die Menschheit noch einmal auf Lügen herein.
Dann kann es geschehen, dass bald keiner mehr lebt. 
Niemand, der die Milliarden von Toten begräbt. 
Doch längst finden sich mehr und mehr Menschen bereit, 
Diesen Krieg zu verhindern, es ist an der Zeit."

Dieses Antikriegslied sollte eine weitere Friedenshymne nicht nur in der Ostermarschbewegung werden. Reinhard Mey, der inzwischen 83 Jahre alt ist und so lange Zeit als wunderbarer und kreativer Liedermacher durch die Lande zog, verdient es, von uns allen mit Liebe und Hochachtung gewürdigt zu werden. Ich wünschte mir, dass er angesichts der jetzigen, akuten Weltkriegsgefahr, eine kurze, friedenspolitische Botschaft verfasst, die von vielen Künstlern und von Millionen Menschen auf der ganzen Welt mitunterzeichnet wird. 

Im Übrigen vermisse ich die geballte Liedermacher- und Rockerszene sehnsüchtig auf einer großen, gemeinsamen, deutschlandweiten Friedensdemonstration.


foto: Sven-Sebastian Sajak – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38526670

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Lucille Younger
    10. April 2025 17:02

    Americans had folk singers, yes, but none with as searing and profound lyrics as Reinhard Mey. Their songs were musically beautiful, but didn't embed in your heart, mind, and spirit like Mey's. Wish I had been able to hear and experience Mey when I was coming up. But, I'm awfully glad to luxurate now in his brilliance through the offerings of YouTube.

    Antworten
  • Irene Pitsch
    10. April 2025 20:03

    Ich finde auch gut
    Der Wind geht allezeit über das Land. Da heißt es u.a.
    ~ und die Staatsmann kommen, legen Kränze nieder, reichen sich die Hand und wagen zu sagen all das hat seinen Sinn und der Wind geht allezeit über das Land.
    Und das Lied Frieden
    ~ wann ist Frieden, endlich Frieden.
    Wann ist Frieden, endlich Frieden und all das Elend vorbei ?
    Wann ist Frieden, endlich Frieden,
    Wann ist Frieden, endlich Frieden und das Ende der Barbarei !

    Antworten

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