Karma neu denken. Provokation der Vernunft. 

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Ist es denkbar, dass wir mehr als nur ein Mal leben? Der Glaube an die Reinkarnation ist nicht nur in den asiatischen Religionen verbreitet (Buddhismus und Hinduismus umfassen etwa 2 Milliarden Gläubige). Laut der Plattform „statista“ (Stand 2017) sollen in Deutschland 35 Prozent der Befragten davon überzeugt sein, schon einmal gelebt zu haben. Diese Idee, die heute vielfach als Film- und Romanmotiv auftaucht oder den „Reinkarnationstherapien“ und „Rückführungen“ zugrundeliegt, – ist sie schlicht ein Import aus Asien? Der Theologe Emil Bock dürfte einer der ersten gewesen sein, der die Adaption der Idee in der abendländischen Kultur verfolgte (Emil Bock: Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte. Stuttgart 1932). 

Der Anthroposoph Fred Poeppig (1900-1974), ein Kenner der asiatischen Kultur, hat den Unterschied dieser Idee in ihrer östlichen (theosophischen) und westlichen (anthroposophischen) Ausprägung beschrieben: „Von einer individuellen Seelenfrucht, die im ‚Ich‘ von einem Erdenleben zum anderen hindurchgetragen wird, findet man bei Buddha nichts.“ Nach der Geburt des kosmischen Ich (Christus) auf Erden habe sich der Schwerpunkt auf die menschliche Persönlichkeit verlagert. Der reinkarnierende Mensch selbst bewirke dadurch den geistigen Fortschritt in der Geschichte. Die abendländische Auffassung der Idee der Reinkarnation sei daher zugleich „eine Frucht des Christus-Impulses“ (Fred Poeppig: Rudolf Steiner. Der große Unbekannte. Leben und Werk. Wien 1960, S. 181)

Aus anthroposophischer Sicht liegt seit 2023 ein neuer Versuch vor, diese Idee ins Gespräch zu bringen. In der „schlanken Reihe“ des Info3-Verlags erschien das Büchlein „Karma neu denken“. Jens Heisterkamp beschreibt darin, wie er sich schon früh mit existenziellen Fragen beschäftigt hatte, bespielsweise ob es ein Leben nach dem Tod geben könne. Zu Beginn seines Studiums war er dann auf ein Buch Rudolf Steiner gestoßen: "Ich fühlte mich fast auf persönliche Weise angesprochen."

Hier wurde offensichtlich nicht philosophisch spekuliert, sondern aus eigener Erfahrung eine geistige Welt geschildert. Schließlich fand er in Steiners Schrift „Theosophie“ erstmals die Idee von „Reinkarnation und Karma“, die ihm zunächst fremdartig erschien. Heute ist er überzeugt: Diese nicht im klassischen Sinne „beweisbare“ Idee sei es wert, ernsthaft geprüft zu werden. Heisterkamp unternimmt dies mit den Mitteln der Vernunft.

Er skizziert zunächst die Geschichte dieser Idee in Ost und West und zeigt, wie diese in mehrfacher Hinsicht eine ungeheure Provokation der menschlichen Vernunft bedeutet. Denn sie impliziert ein unsterbliches Subjekt, die Existenz eines „Jenseits im Diesseits“, sieht den Sinn der Wiederverkörperung in der Entwicklung und ist ohne eine objektive moralische Weltstruktur nicht denkbar. Alles in allem stellt sie den wohl schärfsten Gegensatz zum derzeit herrschenden naturalistischen Weltbild dar. 

Freiheit und Karma

In dem Abschnitt „Freiheit will Karma“ legt der Autor dar, dass Karma dem freien Willen nicht widerspricht, weil jeder Mensch sein Karma immer wieder verbessern könne. Unser freies, verantwortliches Ich spielt eine zentrale Rolle. Für das „Gesetz des Ausgleichs“ (Karma) sind nicht nur göttliche Kräfte zuständig, sondern auch wir selbst. Wir selbst wollen Fehler wiedergutmachen und angebahnte Entwickungen konstruktiv weiterführen. „Wir sehen uns wieder – unsere Lieben, aber auch unsere Gegner, unsere Lehrer und unsere Opfer.“ Karma ist jedoch keine geschlossene Kausalkette: Jedes freie Bemühen wäre sinnlos, wenn alles bereits festgelegt wäre. Aus dem Karmabegriff folgt keineswegs eine distanzierte Lieblosigkeit gegenüber anderen.

Ein notwendiges Zwischenreich

Nimmt man Wiederverkörperung an, so gehört notwendigerweise eine Dimension zwischen Tod und neuer Geburt (traditionell: ein Himmel, eine rein geistige Welt) dazu, wo wir uns weiterentwickeln, von Lasten befreien und auf neue Aufgaben vorbereiten. Es scheint allerdings Ausnahmen zu geben: im tibetischen Buddhismus wird die Individualität des Dalai Lama sofort nach dem Tod in einem Kind wiederverkörpert, das dann von Kundigen aufgesucht und bestätigt wird. Sind das „Jenseits“, in dem sich die Verstorbenen und Ungeborenen aufhalten, und das „Diesseits“ nur zwei Seiten einer umfassenden Wirklichkeit?

Entwicklung jenseits von Strafe

Manche Kritiker fürchten, dass „karmische Diagnosen“ zur Verurteilung und Lieblosigkeit gegenüber Hilfsbedürftigen führen könnten – sie seien ja „selbst schuld“. So beispielsweise ZDF-Redakteur Dietrich Krauss (2022), der die Anthroposophie eine menschenfeindliche Ideologie nannte. Einige überlieferte Äußerungen Rudolf Steiners über den Zusammenhang von Karma und Krankheit dürften nicht rezeptartig übernommen oder lehrhaft verbreitet werden, warnt Heisterkamp und zitiert Steiner: „Gerade zum Mitleid muss uns das Durchschauen der Welt führen, das auf Karma begründet ist.“ (GA 107, S. 178 ff.)

Karma und Menschenwürde

Die Idee der Reinkarnation trägt das Potential in sich, die sozialen Beziehungen zu vertiefen. 

Der Autor findet Karma in diesem Sinne tröstlich und gütig. Er bezieht auch eine ökologische Dimension des Prinzips mit ein: die Folgen der eigenen Umweltsünden können mir im nächsten Leben wieder entgegentreten. Die Haltung „Nach mir die Sintflut“ gehe dann nicht mehr. Angesichts der offenen Fragen, so Heisterkamp in seinem Fazit, müsse vieles im Konjunktiv bleiben. Aus Selbstbeobachtung könne ein Ich identifiziert werden, dem wir ein Weiterleben nach dem Tod zutrauen. Dabei sei die Idee der Reinkarnation am plausibelsten.

Theologische Debatte 

Ist die Reinkarnation mit dem christlichen Glauben vereinbar? Der Religionswissenschaftler Helmut Obst („Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee“, 2009) lässt diese Frage zunächst offen, um sie dann doch zu bejahen. Dies wird von der Mehrheit der Theologen vehement kritisiert, beispielsweise von Werner Thiede, der stattdessen Helmut Zanders „Geschichte der Seelenwanderung in Europa“ (1999) als Lektüre empfiehlt. Zander hatte schon 1995 aus katholischer Sicht „Reinkarnation“ als mit dem Christentum unvereinbar dargestellt. 

Eine Idee mit Zukunft

Trotz seiner existentiellen Betroffenheit bleibt Heisterkamp nüchtern. Er vermeidet Spekulationen, die die Neugier bedienen und zu Selbsttäuschung führen. Das gedanklich anspruchsvolle Thema wird in verständlicher Form behandelt, gerade auch durch die freilassende Fragehaltung. Die Idee von Karma und Reinkarnation, so der Autor zuversichtlich, habe ihre Zukunft noch vor sich. Ein empfehlenswertes, leicht lesbares Buch, das sich wohltuend von der „Gebrauchs-Esoterik“ unterscheidet und zum Weiterdenken anregt. Es dürfte auch Anthroposophen ungewohnte Perspektiven eröffnen.


Jens Heisterkamp: Karma neu denken. Wiederverkörperung und Schicksal als Herausforderung für die Vernunft. Frankfurt am Main: Info3 Verlag, 1. Aufl. 2023 (2. Aufl. in Vorbereitung), Schlanke Reihe, Band 8, broschiert, 102 S.,€ 10, 90.

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