Zur Bild-Biographie Rudolf Steiners
wgv./mm.- Schon zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners hatte das Archiv einen großen Bildband vorgesehen, der aber zugunsten anderer Jubiläumsaktivitäten zurückgestellt werden musste. Das Team der jetzigen Herausgeber konnte an Vorarbeiten von Walter Kugler und Stephan Widmer anknüpfen. So entstand in zehn Jahren ein voluminöses Werk von fast 500 Seiten, das, wie die Herausgeber hoffen, das zukünftige Steinerbild prägen wird.
Die in den letzten Jahrzehnten verstärkte Erforschung von Steiners Biographie und Werk hinterließ auch in diesem Band ihre Spuren. Das Verhältnis der Anthroposophen zu ihrer Gründergestalt hat sich gewandelt: im Mittelpunkt steht nicht mehr der vollkommene, unantastbare spirituelle Lehrer, sondern der ringende, fehlbare Wahrheitssucher, der in seiner "Welten-Wanderung" manche menschlichen Abgründe in sich und anderen erlebte. Die Vermenschlichung des "Menschheitsführers" (die durch Steinerbiographen wie Gerhard Wehr und Christoph Lindenberg in Gang gekommen war) rückt uns Steiner näher und eröffnet neue Perspektiven jenseits von Abwertung oder Personenkult.
Der schwergewichtige neue Band übertrifft inhaltlich und ästhetisch die früheren Steiner-Bildbände (Freiburg und Dornach 1971-1987) bei weitem. Während damals den Schwarz-Weiß-Fotos Auszüge aus Steiners Autobiographie und Günther Wachsmuths Steinerbiographie beigegeben waren, wartet der vorliegende Band mit eine Fülle bisher unveröffentlichter Quellen (Briefe, Tagebücher usw.) und oft farbigen Bildern (darunter kolorierte Ansichtskarten) auf. Die qualitativ hochwertigsten Fotos, vor allem vom ersten Goetheanumbau, stammen von dem Fotografen Otto Rietmann (St. Gallen).
Die Schwierigkeit, eine Auswahl aus den Dokumenten zu treffen, kann nachempfinden, wer weiß, dass das Archiv 1,5 Laufkilometer Regale mit Archivalien zur Biographie besitzt. Es konnte sich nur um die Frage handeln: nach welchen Kriterien ausgewählt wird. Die zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen machen die Atmosphäre der jeweiligen Jahre lebendig. Lesefreundlich auch die große Schrift der einleitenden Texte, die in ihrer Konzentriertheit an die den Jahresübersichten in Lindenbergs Steiner-Chronik erinnern. Das Layout ist hochprofessionell gestaltet.
Auf "ausführliche Beschreibungen, ausgreifende Deutungen und Interpretationen" haben die Herausgeber verzichtet. Sie wollten die Dokumente durch sich selbst sprechen lassen. In ihrem Facettenreichtum und in ihrer Widersprüchlichkeit entziehen sich die Bilder einer leichtfertigen Interpretation. So bleibt für die Betrachtenden bleibt Freiraum für die eigene Bewertung.
Der Band gliedert sich in acht Kapitel: Kindheit und Jugend – Student, Hauslehrer, Redakteur – Goethe-Herausgeber – Berliner Bohėme – Wirken in der Theosophischen Gesellschaft – Ausbau der Anthroposophie – Schulgründer und Sozialreformer – Neubeginn nach dem Goetheanumbrand.
Jedes Kapitel enthält eine Vielzahl an Dokumenten, die nicht nur Steiners Anteilnahme an den damaligen Zeitproblemen oder -ereignissen deutlich macht, sondern durch Aussagen von Zeitgenossen oder Presseartikeln auch eine Einordnung in den Gesamtzusammenhang des jeweiligen Zeitabschnittes vornimmt.
Rudolf Steiner kannte die Praxis, jedes Zettelchen von Goethes Hand aufzuspüren, um es später zu publizieren. Er hat sich als Herausgeber selbst daran beteiligt. Hat auch er damit gerechnet, dass sein eigenes Privatleben einmal durchleuchtet werden würde?
Nach seinem Tod kamen immer mehr Details aus seinem Privatleben ans Licht, bis hin zu den späten Briefen an seine ärztliche Mitarbeiterin Ita Wegman. Eine Abbildung aus letzteren (deren Authentizität von manchen bestritten wird) beweist die Offenheit im Umgang mit Privatissima.
Nähergebracht wird uns auch Steiners Jugendliebe Radegunde (Gundi) Fehr, mit Zitaten aus beiderseitigen Briefen und einem Foto. Weil diese Steiners Bild mit Brille beanstandete, sandte er ihr ein retuschiertes Foto nach. Man erfährt nebenbei, dass Retuschen damals durchaus alltäglich waren.
Tabus? / Kritische Aspekte
Ein Beispiel für Enttabuisierung ist die Erwähnung Karl Heises, der als Autor von Verschwörungsliteratur gilt und 1913 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft wird. Er wird weder kritisiert noch in Schutz genommen. Die Leserinnen und Leser erfahren, dass dessen vielbeachtetes Buch "Entente-Freimaurerei und Weltkrieg", von dem innerhalb eines Jahres zwei erweiterte Auflagen erschienen seien, "einen zunehmenden antisemitischen Ton" enthielten. Rudolf Steiner hatte ein Vorwort (ohne Verfasserangabe) zu diesem Buch geliefert, und es enthielt mehrere ausdrückliche Bezüge zu Steiners "Gedanken während der Zeit des Krieges" sowie am Ende einen Spruch Steiners über die "Mission des Deutschen Geistes".
Die Herausgeber enthalten sich jeder Spekulation darüber, ob um 1900 ein radikaler Wandel in Steiners Anschauungen stattfand. Bekanntlich wird von Kritikern seine ideologische Eigenständigkeit angezweifelt. Entgegen der steinerkritischen Überzeugung, es sei eine Zäsur in Steiners Weltanschauung eingetreten und er hätte sich aus Existenznöten der Theosophie zugewandt, heißt es, die theosophische Bewegung sei auf ihn aufmerksam geworden. Das dürfte der von Steiner vorgegebenen Deutung entsprechen, der seine geistige Entwicklung eher als Metamorphose sah und öffentlich beteuerte; "Da war niemals ein Bruch".i
Zum Bildungsgang: Im Gegensatz zur Mehrzahl der Steinerforscher, die ein "abgebrochenes Studium" konstatieren, ist hier von einem "abgeschlossenen Studium" (S. 88) die Rede.
Steinerkritiker verweisen gern auf die vernichtende Beuteilung und Nichtbeachtung, die Steiners Philosophie in der Fachwelt erfuhr (etwa durch eine vernichtende Kritik Eduard von Hartmanns). Die Herausgeber begnügen sich damit, auf Hartmanns "abweichenden Standpunkt" hinzuweisen.
Von fast allen externen Steinerbiographen wurde süffisant vermerkt, dass Steiner mit der schlechtest möglichen Note promoviert habe. Zum abgebildeten Doktordiplom erklären die Herausgeber, die schlechte Bewertung hänge "sicher auch" damit zusammen, dass Steiner die Arbeit ohne Begleitung durch seinen Doktorvater anfertigt habe.
Als Steiner 1924 die Burgruinen von Tintagel besuchte (S. 443), erklärte er sie für den Wohnsitz des legendären König Artus. Kritiker beurteilten das als Fantasie Steiners. Neuere archäologische Befunde zeigen, dass Tintagel tatsächlich ein bedeutender Fürstensitz gewesen sein muss.
Der abgebildete Kirchenbuch-Eintrag widerlegt Spekulationen über Steiners "gefälschtes" Geburtsdatum.
Aufgenommen wurden nicht nur Zeugnisse des Respekts (Hermann Hesse, Ernst Bloch, Albert Schweitzer); sondern auch verständnislose, kritische und ironisch-satirische Stimmen.
Zitiert werden zeitgenössische Kritiker und Interessenten wie Rohm (335), Kully (348), G.v. Gleich (354), Kracauer (372), Dessoir, Tönnies, Otto Zimmermann, Einstein, Schrödinger, Drews, Kafka, Paul Klee. Dokumentiert wird allerdings auch die Schadenfreude nach der Vernichtung des Goetheanums, wie sie etwa der Theologe Karl Barth zum Ausdruck brachte (S. 411)
Raritäten, Kuriosa und ungelöste Fragen
Der Band zeigt auch Steiners Heiratsurkunden von 1899 und 1914, sowie Geräte aus dem freimaurerischen Kultus. Erwähnenswert die Porträt-Skizzen Steiners von Heinrich von Kralik vom Mai 1921 (367) der seltene Schnappschuss von Peggie Mörser (373) oder ein Foto der Eurythmiegruppe 1924 in Berlin, mit der Tochter des vormaligen deutschen Außenministers, Friedel Simons. (S. 439) (dazu in GA 255b, S. 545)
Eine kaum bekannte Erinnerung des Schriftstellers Kurt Kamlah über Hartlebens Berliner "Verbrechertisch" (S. 118) beleuchtet das damalige Zeitkolorit.
Aus heutiger Sicht kurios erscheint der anerkennende Ausspruch des sozialdemokratischen Ministers über den Waldorf-Astoria-Direktor Molt: "Der Kapitalist ist für die Einheitsschule".
Rudolf Steiners Steiners Neigung zu grotesken Formulierungen, denen er gelegentlich nachgab, wird durch launige Gedichte dokumentiert, wie in den parodistischen Spottversen "Linksphilosophie" (S. 326). Zu Unrecht vergessen ist "Die gebratene Flunder", eine groteske Szene von Paul Scheerbart (119), die Steiner als humoristische Beigabe der ersten öffentlichen Eurythmieaufführung einfügte und über die er sich positiv äußerte, obwohl sie fast dadaistischer Nonsens war.
Willy Haas vom Ernst Rowohlt Verlag Berlin bittet Steiner noch am 26. März 1925, in Unkenntnis von Steiners Krankheit, um regelmäßige Beiträge für die neue Wochenschrift "Die Literarische Welt". Deren Herausgeber Haas möchte "die lebendigsten und tiefsten Köpfe Deutschlands" in seinem Blatt vereinen. Die Anfrage kommt zu spät.
Steiners Tod – Foto auf dem Totenbett und Foto des Trauerzuges auf dem Basler Horburgfriedhof – löst weltweite Anteilnahme und ein großes Presseecho "mit Würdigungen des Lebenswerks" aus (S. 458). Wer die Pressenachrufe kennt, weiß allerdings, dass nur wenige von ihnen sachgemäße Würdigungen enthielten. Die meisten Nekrologe (vor allem in den deutschen Zeitungen) wiederholten alte Falschmeldungen und zeichneten Steiner als zwielichtige Gestalt.
Fazit
Die Behauptung, die Anthroposophie vertrete einen "Absolutheitsanspruch des Wissens", wird durch einen Charakterzug Steiners widerlegt, den dieser Bildband besonders gut herausarbeitet: Er pflegte einen beweglichen Denkstil, der sich durch "fortdauernden Perspektivwechsel" auszeichnete. (173).ii Kenner des Werks wissen, dass Steiner einmal eingehend die relative Berechtigung von "zwölf Weltanschauungen" darstellte.iii
Wie die Herausgeber mit Recht einräumen, kann man dem Gesamtphänomen Steiner auch mit einem solchen Buch nicht gerecht werden. Aber der neue Anlauf ist verdienstvoll. Deutlich wird die Souveränität, mit der sich Steiner in ganz unterschiedlichen Milieus zu bewegen wusste. War er tatsächlich ein Universalgenie? Schon zu seinen Lebzeiten versuchten seine Schüler, diesen Eindruck zu vermitteln, etwa in dem Sammelband zu seinem 60. Geburtstag. Ihr Herausgeber war sich der damit verbundenen Problematik bewusst: "Wenn man von Steiner spricht, ist man in seltsamer Lage. Man schwankt zwischen der Freude, Allergrößtes den Menschen erzählen zu dürfen, und der Furcht, zunächst nur abenteuerlich zu wirken."iv
Daran dürfte sich wenig geändert haben. Es bleibt letztlich den Lesern dieser Bildbiographie überlassen, Steiner für ein Genie oder für einen Abenteurer zu halten.
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Rudolf Steiner 1861-1925. Eine Bildbiografie. Hrsg. von David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg, Stephan Widmer. Rudolf Steiner Verlag, Basel 2021,
496 Seiten, ca. 800 Abb., Format 25 x 31 cm, 88.- Euro
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Anmerkungen
i Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr.116, Frühjahr 1996, S. 1
ii "Steiner vertrat einen Multi-Perspektiven-Ansatz, bei dem es die ‚eine Wahrheit‘ nicht gibt.", so Detlef Hardorp: Auf tönernen Füßen. Goetheanum, 10.12.2021.
iii Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke. Vier Vorträge, Berlin, 20.-23. Januar 1914 (GA 151).
iv Friedrich Rittelmeyer (Hg.): Vom Lebenswerk Rudolf Steiners, Nürnberg 1921, S.37.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Sehr geehrter Herr Vögele,
zu Ihrem Artikel in "Anthroposophie" über Hans Hasso von Veltheim: Sie kennen sicher auch die Biographie von Karl Klaus Walther die noch schöne Ergänzungen zu Ihrem Text bringt.
Mit freundlichen Grüßen Bernhard Steiner