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Albrecht Müller von den "Nachdenkseiten" im Gespräch mit dem Journalisten Rainer Burchardt 

von Michael Mentzel
Die nunmehr seit 16 Jahren bestehenden "NachDenkSeiten" gehören mit ca. 100.000 Besuchern täglich zu den wohl profiliertesten alternativen Webseiten, die es derzeit in Deutschland gibt. "Erfinder" dieses Informationsportals ist Albrecht Müller, ehemaliger Planungschef im  Bundeskanzleramt unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Von 1987 bis 1994 saß Müller für die SPD im Bundestages und ist seit 2003 als Autor und Mitherausgeber dieser NachDenkSeiten tätig. Mit seinem Angebot, dass täglich über 100.000 Nutzer erreicht, machen die Nachdenkseiten genau das, was Müller in seinem aktuellen Buch seinen Lesern und denen, die es noch werden sollen, empfiehlt: "Glaube wenig l Hinterfrage alles l Denke selbst – Wie man Manipulationen durchschaut." 

Ort der Handlung

Der große Saal des Hamburger Rudolf Steiner-Hauses. Hier trafen sich am 18. November Albrecht Müller und Rainer Burchardt zum Gesprächsaustausch über das Buch, dass am 1. Oktober erschienen ist und derzeit auf Platz 3 der Spiegel Bestsellerliste zu finden ist. Rainer Burchardt war von 1994 bis 2006 Chefredakteur des Deutschlandfunks und ist Professor an der Fachhochschule Kiel und an der Hochschule Bremen. 

Eingeladen hatte der Hamburger Gesprächskreis der NachDenkSeiten gemeinsam mit attac Hamburg, der GEW und dem Hamburger Forum. Die Begrüßung und die einführenden Worte sprach Udo Fröhlich vom Hamburger Gesprächskreis, der am Ende seines Beitrags auf die Situation des in Großbritannien inhaftierten Julian Assange hinwies. Seine Aufforderung an Politik und Gesellschaft: "Im Namen der Pressefreiheit: Lassen Sie Julian Assange frei!" 

Es solle an diesem Abend "keine klassische Lesung stattfinden", erläuterte Rainer Burchardt zu Beginn, sondern der Versuch, sich über die in dem Buch aufgeworfenen Fragen der Methoden von Manipulation und Meinungsbeeinflussung auszutauschen. Das Buch von Albrecht Müller sei ein Standardwerk für alle, die selber denken und den manipulierenden Strategen und Strategien "nicht auf den Leim gehen wollen".

"Medienkompetenz" sei das Schlüsselwort in der heutigen Zeit und um eine solche Kompetenz zu erwerben sowie Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen, sei das Buch "sehr, sehr hilfreich." 
Albrecht Müller, so der Journalist, kenne die Mechanismen der Beeinflussung natürlich genau, sei er doch früher ebenfalls als Politiker und Wahlkämpfer "Mittäter". Diesen kleinen Seitenhieb konnte und wollte sich der ehemalige Chefredakteur eines öffentlich-rechtlichen Mediums dann wohl doch nicht verkneifen. 

Warum ein solches Buch?

Wie sehr den Autor des Buches diese Themen bewegen, wurde deutlich als Albrecht Müller seine Motivation zum Schreiben dieses Buches präzisierte. Obwohl die Sachverhalte und Themen, die im Buch zur Sprache kämen, sich im wesentlichen auch auf den "NachDenkSeiten" fänden, so der Autor: "… war eines der Motive, eine gebündelte Hilfe zur Abwehr des Zugriffs auf unser Denken vorzulegen und ein zweites, mehr Menschen zu erreichen, denn nicht alle lesen die Nachdenkseiten und es gibt Menschen, denen man gern einmal etwas zu lesen gibt. Und es gibt auch ein Fernziel, nämlich die Schaffung eines Milieus von Gegenöffentlichkeit." Was nach Auffassung des Autors Albrecht Müller bedeute, das man nicht mehr gezwungen sei, dem zu folgen, was der Mehrheitsmeinung entspricht. Und dann las er doch ein wenig aus der Einleitung des Buches und führte die Zuhörer auf diese Weise in das Thema Manipulation und die Beeinflussung durch Propaganda ein: Keine der großen politischen Entscheidungen der letzten Jahre sei ohne den Einfluss massiver Propaganda gefallen, diese war immer wieder entscheidend und hat auch bestimmt, was geschieht. Er nannte als Beispiele die Vereinigung Deutschlands, die Agenda 2010 und die Riesterrente, die Verschleuderung des sozialen Wohnungsbaus und weiteres mehr. Darunter natürlich auch die neue Konfrontation mit Russland, Aufrüstung statt einer versprochenen Abrüstung und die Beteiligung Deutschlands an militärischen Interventionen. Angesichts dieser Tatsachen, so Albrecht Müller, könne man wohl kaum von einer lebendigen Demokratie sprechen. Sie sei am Ende, "wenn nicht der so genannte Souverän, sondern die Meinungsmacher bestimmen, wo es langgeht." 

Die Initialzündung für das Projekt Nachdenkseiten wurde laut Müller ausgelöst durch die "INSM", ddie "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" im Jahre 2000, die unter anderem vom Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie massiv (mit 100 Mio. DM) unterstützt wurde, um neoliberale Glaubenssätze zu verbreiten. 

Gedankenfreiheit

In seinem Buch, so Müller, sei niedergeschrieben, "was hilft, sich Gedankenfreiheit zu bewahren und Meinungsmache zu durchschauen."

Ein interessanter Satz findet sich in der Einleitung zum Buch, der das "Neue Deutschland" in seiner Rezension des Buches dazu verleitete, Müller eine Querfront-Strategie zu unterstellen. Müller hatte geschrieben: "Man sollte sich die Personen, vor allem in den Medien, merken, von denen wir mit markanten Täuschungen versorgt werden." Hier witterte das "Neue Deutschland" Böses: "Gedankengebäude, die man eher im Umfeld der AfD vermuten würde – auch wenn Begriffe wie »Lügenpresse« nicht explizit auftauchen." Dass die ZDF-Sendung "Neues aus der Anstalt" die Verflechtungen von Journalisten mit den transatlantischen Netzwerken mehr als deutlich hinterfragt hatte und zu Recht auch Namen genannt hatte, scheint den Kollegen vom Neuen Deutschland dann doch entgangen zu sein. Denn es kann ja wohl nicht schaden, zu wissen, wer einen Sachverhalt mit einem bestimmten Hintergrundwissen in einer der Leitmedien wie der Zeit oder einem Springer-Blatt verfasst hat. Zudem ist die Lektüre des Buches nicht unbedingt der Tagespolitik gewidmet, sondern beschäftigt sich, wie unschwer zu bemerken ist, mit eher zeitlosen Ausprägungen von Manipulation, die sich in unterschiedlichen Zeiten zwar unterschiedlicher Methoden bedienen, dennoch aber Manipulation bleiben. 

Albrecht Müller hat eine Mission. Das mag manchem – möglicherweise auch linken – Zeitgenossen sauer aufstoßen, aber der Wunsch, möglichst viele Menschen zu erreichen, so Müller, sei nicht nur politischer Natur, sondern: "Es tut einem selbst und dem Zusammenleben gut, wenn man auf möglichst viele Menschen trifft, die ihren Kopf immer wieder aufräumen und von äußeren Einflüssen befreien. Weil wir alle ungern mit anderen Menschen zusammenleben und uns austauschen, wenn dieser Gedankenaustausch allzuoft damit enden muss, dass man die Nase rümpft und denkt: "Was sind die vollgepackt mit Vorurteilen und Denkfehlern. Der Umgang mit unfreien Menschen macht keinen Spaß."

Den Vorwurf, dass er eine generelle Medienschelte betreibe, weist Müller vehement zurück. Oft genug werde auch auf den Nachdenkseiten auf gute Beiträge der etablierten Medien hingewiesen. Wünschen würde er sich aber, dass es einen besseren Austausch zwischen den Nachdenkseiten und den etablierten Medien gäbe. Wenn aber so weit gegangen werde, dass in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender (NDR) eines seiner Bücher über Meinungsmache zur Illustration einer "Querfront" zusammen mit einem Buch von Olaf Henkel (damals AFD) auf Adolf Hitlers "Mein Kampf" gelegt würde, sei so etwas nicht zu tolerieren. 

Manipulation

Immerhin 17 Manipulatíonsmethoden listet Albrecht Müller im dritten Teil seines Buches auf. Dazu zählen unter anderem klassischen Methoden von Wiederholungen und insbesondere auch das Verschweigen bestimmter Sachverhalte. Die Sprachregelung, Übertreibung, die immer-gleichen Botschaften aus verschiedenen Richtungen und auch der gezielte Einsatz von Emotionen oder das Schüren von Konflikten sind hier beliebte Methoden. Jede der Methoden wird von Müller angeschaut und mit Beispielen belegt. Wer die Nachrichten verschiedener – auch alternativer – Angebote aufmerksam beobachtet, wird sicher weitere Beispiele aus dem täglichen Mediengeschehen nennen können. "Glaube wenig", so heißt es am Ende des Kapitels, sei in diesem Zusammenhang eine wichtige Regel, "um sich wenigstens persönlich vor diesen Inszenierungen zu schützen." 

Der vierte Teil des Buches enthält im Wesentlichen eine ganze Reihe von Meinungsmache und die dahinterstecken Strategien. Die Fälle zu diesem Thema sind Legion und wohl die meisten der ca. 140 Zuhörer, die erkennbar Sympathie für Albrecht Müller und seine Nachdenkseiten erkennen lassen, werden zumindestens einen großen Teil davon kennen. 
Genannt werden beispielsweise die Beeinflussung des Denkens bei der Wiedervereinigung und hier speziell durch die Veränderung des Slogans "Wir sind dasVolk" durch eine Kampagne der CDU, in der mit Hilfe der unterschiedlichsten Kommunikationskanäle dieser Slogan plötzlich zu "Wir sind einVolk" wurde, inszeniert "durch eine bewusste und systematische Kampagne, geplant und umgesetzt jedenfalls von der Bild-Zeitung und der CDU unmittelbar nach dem Mauerfall 1989." 

Zurück zum Gespräch, das sich zeitweise doch zu einer kleinen Lesung gewandelt hatte. Der Journalist Rainer Burchardt will die pauschale Medienkritik des Autors nicht "widerspruchslos" gelten lassen und erinnert an seinen zu Beginn geäußerten Einwurf, inwieweit Albrecht Müller zu Zeiten des Extremistenerlassses unter Willy Brandt in die Verbreitung der Sprachregelung involviert war. Mit des Autors Antwort, dass er lieber über sein Buch sprechen wolle als über alte Zeiten, gab Burchardt sich nicht so ganz zufrieden, sondern er entlockte dem Autor doch einige Antworten, wobei klar wurde, dass Müller seinen Anteil nicht für ganz bedeutend hielt, denn er sei aus den unterschiedlichsten Gründen (z.B. Aktivitäten um den Wahlkampf) nicht überall dabei gewesen. Gleichwohl machte er deutlich, dass diese damaligen Sprachregelungen falsch gewesen seien. Es gäbe dabei überhaupt nichts zu beschönigen, merkte er selbstkritisch an. 

Die Meinungsforschung

Rainer Burchardt nahm dann Bezug auf einen weiteren der 17 Punkte aus Müllers Buch und zwar auf die Methoden der Demoskopie im Hinblick auf die Beeinflussung von Wahlen und Abstimmungen. Er merkte an, dass die Demoskopen "eine verfassungsrechtliche nicht legitimierte Position einnähmen", wenn sie noch wenige Tage vor einer Wahl Umfragezahlen veröffentlichen und damit die Wählerinnen und Wähler manipulieren und er frage sich, warum die Medien diese Art der Beeinflussungen nicht thematisiere. Müller gab ihm Recht und wies darauf hin dass dieses Problem zwei Seiten habe. In der Tat sei es bei guten Umfrageergebnissen so, dass die WählerInnen motiviert werden und zu den Siegern gehören wollen. Umgekehrt gelte das aber auch, denn wenn schlechte Umfrageergebnisse veröffentlicht werden, motiviere das die Wähler auch, und sei es, um noch etwas zu retten. Klar dürfte sein, dass es ratsam ist, Umfrageergebnissen nicht von vorneherein zu vertrauen, sondern sich selbst ein Bild zu machen und immer zu bedenken, dass die Umfrage-Institute von den Parteien beauftragt werden und insofern immer ein waches Auge vonnöten ist. 

Daran anschließend wurde der Gesprächsraum erweitert, um auch dem Publikum die Gelegenheit zu Nachfragen oder auch zu Kommentaren zu geben. Tatsächlich wurde davon auch reichlich Gebrauch gemacht, wobei an dieser Stelle konstatiert werden muss, dass es sich bei den ZuhörerInnen wohl zumeist um aufmerksame Leserinnen und Leser der Nachdenkseiten handelte, deren Beiträge in den meisten Fällen als Ergänzung zu den Ausführungen von Albrecht Müller zu verstehen waren. 

Lang anhaltender Beifall zum Schluss der Veranstaltung signalisierte, dass das Publikum auf seine Kosten gekommen ist und das wohl kaum jemand so gänzlich ohne Kenntnis der Zusammenhänge dem Gespräch zwischen Rainer Burchhardt und Albrecht Müller sowie dessen Ausführungen gefolgt war, war wohl auch daran zu merken, dass die anwesende "Gegenöffentlichkeit" nicht schläft, sondern bereit scheint, nicht nur zu glauben, alles zu hinterfragen und vor allem: Selbst zu denken. _____________________________________

Albrecht Müller
Glaube wenig  ·Hinterfrage alles ·Denke selbst 
Wie man Manipulationen durchschaut
144 Seiten. 14 €. Paperback

Westend-Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Udo Fröhlich
    29. November 2019 23:51

    Ein sehr treffender Bericht über die Veranstaltung. Als Veranstalter haben wir den Austausch mit dem Autoren Albrecht Müller und dem Journalisten Rainer Burchardt am Abend selbst nicht kommentieren wollen. Er gehörte den Gästen und dem interessierten Publikum. Nachträglich eine Anmerkung: Albrecht Müller hatte in Sachen Radikalen- bzw. Extremistenerlass ja betont, dass er zu dieser Zeit gerade nicht zum Beraterzirkel im Bundeskanzleramt zählte. Als einen politischen Fehler bezeichnete er es dennoch. Wichtig erscheint mir Eines zur Debatte anzufügen. Sprache lebt und ist Interessen bezogen nutzbar, auch missbrauchbar. Dass dies – weil wir keine Sprachpolizei haben und auch nicht wollen – gesellschaftliche Akteure, wie Wirtschaft, Parteien, Regierung und auch Verbände ihren Interessen entsprechend zu Werbe-/PR-/Propagandazwecken nutzen, überrascht mich nicht wirklich, auch wenn eine aufklärende Sprache für den Souverän hilfreicher wäre. Hier, zum Vorteil der Betroffenen Menschen, entlarvend und aufklärerisch aktiv zu werden, das ist Aufgabe des mit Privilegien ausgestatteten Journalismus. Und Albrecht Müller erfüllt diese Aufgabe als Buchautor und Herausgeber der NachDenkSeiten zusammen mit seinem Redaktionsteam sehr zum Nutzen des Publikums. Bedauerlich ist, dass zu viele Journalisten, zumal in der Hauptstadt, die Sprachregelungen und manipulativen Verkehrungen der Begriffe durch zum Beispiel Regierung und grosse Interessenverbände schlicht übernehmen und damit die Manipulation des Publikums erst ermöglichen. Sie werden damit parteiisch zulasten des Souveräns, statt im Interesse einer funktionierenden Demokratie den Mächtigen auf‘s Maul zu schauen und erforderlichenfalls auf die Finger zu hauen (bildlich gesprochen). Dieser Rolle als Wachhund der Demokratie wird ein sehr grosser Teil der Medienschaffenden aktuell nicht gerecht, was sich in nur 19% Vertrauen seitens der Bevölkerung widerspiegelt. Die Aufklärungsarbeit der NachDenkSeiten wird auch weiter auf eine zunehmende Nachfrage stossen.

    Antworten
  • Dr. Otto Ulrich
    30. November 2019 10:15

    Hallo, Albrecht,
    welch Überraschung Dich nach so vielen Jahren hier bei Michael Mentzel auf "Themen der Zeit" wieder zu treffen – Du weisst ja, damals warst Du mein Chef in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, eine intensive Zeit: Draussen vor unserem Sicherungszaun standen bis hinauf zur Hofgartenwiese 800 000 Demonstranten, (die "Grünen" gab es noch nicht). Als kleiner Referent hatte ich keine Chance Dich und Helmut Schmidt davon zu überzeugen, dass die Demo da draussen, eine "andere" Politik wollte, keine AKWs um das Klima zu schützen!
    Genau wie heute die "Fridays for Future"-Bewegung eine "andere" Politik will – unser Politik- und damit Denkansatz damals ließ diese "andere Zukunft" nicht zu, sie wäre formulierbar gewesen, heute wie damals: Denkverbote.
    NachDenken ist gut, nur, wird es nicht wie damals als wir "dran" waren, weiterhin kanalisiert, in systemkonforme Bahnen gelenkt?
    Unser öffentlicher Meinungskorridor lässt weiterhin keine scheinbar "daneben liegende" Meinung, ungewohnte Perspektive, kein fremd anmutendes Weltbild zu – aber es ist unterwegs, längst formulierbar, welt weit wird es in Strukturen gegossen, schau Dich nur mal um, frage Dich, wer war eigentlich jener, der dem Hause in Hamburg, in dem das Interview ablief, den Namen gab? Ein Weltenführer – er ist unterwegs, entgegen aller Meinungsmacht der Gegenwart.
    Die Themenwächter der sogenannten meinungsbildneden Medien, ja, da gebe ich Dir ausnahmsweise mal Recht, verdrängen, ignorieren, um damit zu manipulieren.

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