Der nachfolgende Beitrag wurde zuerst in der Ausgabe vom 8.2.2024 der Wochenschrift "Das Goetheanum" veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Nach dem Historiker Andreas Wirsching (Nationalsozialismus und Weimarer Republik) ist Deutschland heute stärker zum Schutz der Demokratie herausgefordert als je zuvor seit 1945.[1] Christina Morina, ebenfalls Historikern mit Schwerpunkt Zeitgeschichte, sagt, dass die öffentliche Diskussion und Politikverachtung eine Heftigkeit erreicht, die die demokratische Ordnung von innen auszuhöhlen drohe. Was bedeuten hier die deutschlandweiten Demonstrationen?
von Wolfgang Held
30 000 Menschen waren es nach offizieller Zählung, die sich am Samstag auf dem Platz der alten Synagoge in Freiburg zur Demonstration versammelten. Ich stand seitlich auf einer Treppenstufe und verfolgte, wie sich am Vormittag der Platz füllte. Schlendernd strömten Einzelpersonen, Familien und Paare aus den Seitenstraßen auf den sonnigen Platz.
Architektonische Imagination
Was für eine sprechende Architektur begrenzt hier das Versammlungsareal! Da steht ehrwürdig in klassischer Bauweise mit ausladendem Halbbogen das Theater von Freiburg. Ja, so ist oft die Kunst, schön, erhaben und zugleich aus der Zeit entrückt und sucht ihre Kraft. Daneben erhebt sich ein gläserner Palast. "Das ist die Unibibliothek", kommentiert ein Mann neben mir meinen Blick. Auch ein Bild: Die ebene Fassade spiegelt das Sonnenlicht, wirkt machtvoll und dabei abgeschlossen nicht weniger abweisend als das anmutige Theater. Mein Blick wandert weiter und kommt zur Stelle, wo einst die Synagoge stand. "Hier gab es noch ein Becken, in dem sich Wasser sammelte und Kinder planschten. Der Stadtrat hat dann diskutiert, "ob Kinderspiel an einem solch ‹heiligen Ort› das richtige ist", höre ich. Ich strapaziere mein Bild und frage: "Welche Heiligkeit erreicht die nächste Generation?" Und weiter im Rund folgt ein Klotz der Freiburger Universität, gehüllt in ein Baugerüst. Ja, denke ich, unsere Bildung ist eine große Baustelle. So erscheint der Platz der alten Synagoge als architektonische Imagination unserer Zeit, als dreifache Baustelle: Eine Kunst, die aus vergangener Schönheit nicht leicht ihren Dienst erfüllt, uns Zukunft ahnen zu lassen, ein Wissen, das sich dem Leben mehr zuwendet, als es bloß es zu spiegeln, und eine Bildungswelt, die sich vom einen machtvollen Klotz in viele offenen Pavillons verwandelt.
Dasein ist Pflicht
Um 11 Uhr ist der Platz gefüllt, die Sonne schafft es über die Giebel und gießt goldenes Licht auf das bunte Menschenmeer. Helferinnen und Helfer in signalgelben Westen gehen durch die Reihen und reichen ein Bambusrohr vor die Nase. Sie sammeln Spenden für den Bühnenaufbau. Dann beginnt ein Rapper von der Bühne seinen Wut-Sprechgesang über sexuelle Befreiung und Benachteiligung. Es ist ein merkwürdiger Kontrast zur ausgelassenen Stimmung der vielen Menschen von Jung und Alt. ‹Die Mitte der Gesellschaft› liest man dann in vielen Berichten. Manche strecken ihr Handy in die Luft, um die Vielfalt der Versammlung einzufangen, andere blinzeln abwartend in die Sonne. "Wie wir andere behandeln, zeigt, wer wir sind", steht auf eine Pappe, die sich eine Frau an einem Besenstil vor die Brust hält. Warum sie gerade diesen Spruch gewählt habe, frage ich sie. Ihre Antwort: "Ich habe es gelesen und es hat mir gefallen." Wieder, anders als die Schlachtrufe von der Bühne, keine Agitation, kein Wollen, vielmehr ein Dasein um des Daseins willen. Viele sagen, dass sie das erste Mal oder seit langer Zeit das erste Mal wieder an einer Versammlung teilnehmen. Und warum? "Weil es nötig ist." "Ich bin beunruhigt, was rechts geschieht." "Ich habe in der Schule aufgepasst." Das sind die Antworten, die ich erhalte. Die Atmosphäre erinnert mich an eine Jugendtagung vor vielleicht 25 Jahren an der Waldorfschule in Mainz. Nach einem leidenschaftlichen Vortrag von Henning Köhler gab es keinen Applaus aus der Schülerschaft, nur Stille. Stattdessen rief eine Schülerin im zu, er solle bitte weiterreden. Als der Waldorfpädagoge Werner Rauer sieht, dass ich irritiert bin, beugt er sich zu mir, lächelt und sagt: "Da siehst du es: Die antworten nicht aus dem Astralleib mit Begeisterung oder Empörung, die antworten aus dem Ich›. Das ist stiller und weitaus mächtiger." Ein paar Jahre später titelt das Magazin ‹Der Spiegel› zur Jugend: "Die jungen Milden". (28/1999).
Der Traum vom Miteinander
Die Losung der deutschlandweiten Demonstrationen am ersten Februarwochenende: ‹Wir sind die Brandmauer› will nicht zu dem stillen Aufstehen aus der eigenen Persönlichkeit passen. Eine Mauer ist durch den Verbund der Steine fest. Hier erlebe ich anderes. Von der Bühne kommen Reden, die an frühere Proteste erinnern, es wird die ‹Internationale› skandiert, Parolen zum Mitrufen intoniert. Begeisterung und Idealismus, Wärme und Licht vermag das kaum zu erzeugen. Das zeigt sich in den einzelnen Gesichtern. Wie man es für eine Universitätsstadt, eine Stadt mit ökologischer Verantwortung, erwarten würde, sind es kluge, gebildete Augenpaare, die zur Bühne blinzeln. Eine Mauer trennt, eine Mauer ist wegen ihres Verbunds stabil und unbeweglich. Doch hier geht es doch um Dialog, um Respekt und Anerkennung. Hier sind es die einzelnen Menschen, in denen sich der Traum vom Miteinander in Vielfalt und Toleranz auslebt. Diese Ideale strahlen, wenn sie auch denen gelten, deren National- und Stabilitätsträume jetzt die demokratische Kultur gefährden.
Wie schön wäre es, wenn das Mikrofon von der Bühne hinuntergereicht würde und durch die 30 000 auf dem Platz wandern würde. Da würde ich von dem 80-jährigen Mann rechts neben mir, der mit seinem Gehstock beim Rap auf die Pflastersteine klopfte, hören können, warum er hier ist. Die Schülergruppe weiter vorne könnte erzählen, was ihnen durch den Kopf geht. Neue Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die die gefährdete Demokratie zu schützen vermag, so kann ich es hier erleben, bildet sich aus der Kraft, Wärme und Einsicht der Einzelnen. Das kann nicht ein ‹Dagegen› sein, wie es von der Bühne mal freundlich, mal unfreundlich und mal erschreckend gerufen wird. Das sollte ein ‹Dafür› sein. Das ist wohl die Sehnsucht, die sich im Tieferen hier artikuliert. Ob die Demonstrationen denn etwas bewirken? Ich glaube, sie zeigen schon jetzt, dass die Losung des Populismus, Anwalt des Volkes zu sein, Gewicht verliert, wenn so viele jetzt auf die Straße und Plätze gehen. Die Demonstrierenden sagen, sie stehen hier aus Verantwortung – Verantwortung für ein Größeres. Ich glaube, die Demonstrationen werden etwas bewirken, wenn dieses Motiv auch auf den Regierungsfluren an die Stelle des Parteidenkens tritt.
Foto: Wolfgang Held
Quelle: www.dasgoetheanum.com/
[1] Spiegel Online vom 4. Februar: Historikergespräch über den Schutz der Demokratie von Susanne Beyer und Eva-Maria Schnurr.