Damals. Anthroposophische Publikationen oder: Für wen schrieben sie?

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von Wolfgang G. Vögele –
Schon vor über 100 Jahren gab es anthroposophische Zeitschriften, die gezielt auch andere Kreise zu erreichen suchten. Der Erfolg dieser Bemühungen hing wesentlich von der sozialen Vernetzung ihrer Herausgeber ab. So gab der Dichter und Übersetzer Alexander von Bernus, der in den deutschen Literaturszene gut bekannt war, 1916-1920 die Zeitschrift "Das Reich" heraus. Bernus war u.a. befreundet mit Thomas Mann, Rilke und Stefan George. Es gelag ihm, Originalbeiträge von Alfred Mombert, Else Lasker-Schüler usw. zu bekommen. (siehe: Deimann). Auch Rudolf Steiner steuerte Aufsätze bei. Auflage 1920: 4000.

In ähnlicher Weise arbeitete der Schweizer Willy Storrer mit seiner "Individualität" (1926-1930), mit einer Auflage von 3500 (1930). Die deutsche Vertetung übernahm Alexander von Bernus. Auch diese Zeitschrift wollte ein Forum der Begegnung zwischen Anthroposophen und Nichtanthroposophen sein. Sie vertrat allerdings einen extrem individualistischen Standpunkt, was dem Herausgeber mancherlei Anfeindungen einbrachte. Beiträge lieferten u.a. Hermann Hesse, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke und Maxim Gorki. Storrer hatte auch gute Kontakte zu Künstlern des Bauhauses. Zuletzt musste er sich gegen den Vorwurf verteidigen, er sei ein "Verfälscher" der Anthroposophie (Deimann, S. 223)

Hillringhaus und die "Kommenden"

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien in Freiburg i. Br. die unabhängige Monatsschrift für geistige und soziale Erneuerung "Die Kommenden" (1946 bis 1989). Herausgegeben wurde sie von dem Publizisten F. Herbert Hillringhaus (1912-1987). Dieser hatte Kunstgeschichte, Germanistik und Journalismus studiert und war 1932 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft geworden. Er stand allerdings der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung näher als dem Goetheanum. In "führenden Kreisen" der Anthroposophischen Gesellschaft wurde immer wieder bezweifelt, ob die "Kommenden" überhaupt zur anthroposophischen Arbeit gezählt werden dürften. ("Ein Hauch von Häresie", Frowein/Haid, S. 310-312). Mündlich ist überliefert, Hillringhaus habe kurz vor dem Ausschluss aus der anthroposophischen Gesellschaft gestanden. Er gründete auch ein "Mitteleuropäisches Studienwerk", in dem er Vorträge hielt und rief die Symposien auf Schloss Elmau ins Leben. 

Die "Kommenden" waren die einzige Zeitschrift, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Umfang anthroposophische Einsichten und Impulse wirksam in die Öffentlichkeit brachte. Dafür hätte nach Ansicht von Fred Poeppig die Anthroposophische Gesellschaft nur dankbar sein müssen. Aber das Gegenteil sei der Fall gewesen. Der Herausgeber Hillringhaus sei von der "offiziellen" Anthroposophie (Goetheanum) ausgegrenzt und teilweise angefeindet worden, da er in seiner Zeitschrift regelmäßig das politische Zeitgeschehen kommentierte (Rubrik "Blicke in das Zeitgeschehen", ab 1974 mit einer Beilage "Das Wesentliche im Zeitgeschehen"). Nach Paragraph 4 der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft sollten sich deren Mitglieder nicht politisch betätigen. Diesen Vorwurf müsse man dann aber, so Poeppig, auch gegen Steiner erheben, der sehr markante Urteile über das politische Zeitgeschehen publiziert habe. Steiner habe immer wieder energisch gegen die Abneigung der Anthroposophen angekämpft, sich mit den Zeitverhältnissen auseinanderzusetzen: "Diese Innerlichkeit hat nur einen Wert, wenn sie heraustritt ins Leben!" Poeppig fasst zusammen: "Hier scheiden sich die Geister. Die einen betrachten die Anthroposophie als eine okkulte Lehre, die nur für dazu ‚Auserwählten‘ in Frage kommt und sehen es als einen ‚Mysterienverrat‘ an, in einer öffentlichen Zeitschrift die Erkenntnisse derselben für weitere Kreise in einer der Gegenwart angemessenen Form zugänglich zu machen; die anderen erblicken hierin den eigentlichen Kulturimpuls der Geisteswissenschaft, wobei sie sich auf Rudolf Steiners Worte und Haltung berufen können." (S. 165)

Hillringhaus stellte sich in eine Tradition, die in den 1920er Jahren mit den öffentlichen anthroposophischen Hochschulkursen begründet worden war. So hatte etwa der Wiener "West-Ost-Kongress" 1922 zu Zeitfragen Stellung genommen und die Besucher zugleich mit der Anthroposophie bekannt gemacht. 

Grenzgänger

Zahlreiche Mitarbeiter der "Kommenden" zeichneten sich durch Unabhängigkeit und "Grenzgängertum" aus, z.B. die Historikerin Renate Riemeck, der Theologe Gerhard Wehr, der Kunsthistoriker Diether Rudloff, der Chemieprofessor Max Thürkauf, der Biologe und Naturphilosoph Prof.Otto Julius Hartmann, der Historiker Karl Heyer, der Philosoph H. E. Lauer und andere.

Hillringhaus kam auch im Rundfunk zu Wort, als in den 1960er Jahren in der Sendung "Pressestimmen" des Südwestfunks gelegentlich aus seinen politischen Leitartikeln zitiert wurde. Damals waren die "Kommenden" auch an den Zeitungskiosks zu kaufen. 

Im 21. Jahrhundert ermöglichen die digitalen Medien den anthroposophischen Zeitschriften und Verlagen eine ungleich breitere Außenwirkung. Wer sich jedoch als Anthroposoph zum politischen Zeitgeschen äußert, begibt sich zunehmend auf vermintes Gelände. Die politische Großwetterlage erlaubt kaum noch Meinungen, die jenseits des vom "Wertewesten" verordneten Mainstreams angesiedelt sind. Abweichende Ansichten (etwa EU-Kritik oder das Thema Friedensbewegung) werden zunehmend in die rechtspopulistische Ecke gestellt. Fände ein "unabhängiger" Standpunkt, wie ihn die "Kommenden" während des "Kalten Krieges" vertraten, heute überhaupt noch Gehör?


Foto:
Dank an den Versandbuchhandel Andreas Ferch https://www.booklooker.de/app/profile.php?profileuID=3079064

Quellen:
– Götz Deimann (Hg.): Die anthroposophischen Zeitschriften, Stuttgart 1987, S. 181
– Marianne Frowein/Christiane Haid: Hillringhaus, Friedrich Herbert, in Bodo.v. Plato, Anthroposophie im 20. Jhdt, Dornach 2003, S. 310-312, mit Werkverzeichnis.
– Ralf Lienhard: Der Kreis der "Individualität". Bern 2003. 
– Fred Poeppig: Rückblick auf Erlebnisse, Begegnungen und Persönlichkeiten in der anthroposophischen Bewegung 1923-1963. Basel 1964, S. 163-165.

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