Aufhebung der Grenzen

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von Christa Schyboll

Am 9. September verstarb Prof. Dr. Karen Swassjan, Armenischer Philosoph, Historiker, Anthroposoph, MENSCH. MENSCH? – Ist es nicht überflüssig, dies zu erwähnen? Nein, nicht im Sinne seiner Erkenntnis, Philosophie, Lebensaufgabe. Und würde man sagen, er sei tot, so würde er vermutlich milde lächeln und antworten: Was ist der Tod? Der Tod ist die Abwesenheit des Denkens. 

Außenstehende mögen nun munkeln: Typisch, die Anthroposophen mal wieder. Sie kehren die Dinge um, stellen die Welten auf den Kopf und leugnen so manche Tatsache, die wissenschaftlich doch eindeutig ist: Wenn ein Mensch verstorben ist, so ist er eben tot…

Nun reicht ein Nachruf leider nicht, sich mit solchen tiefgehenden Betrachtungen über Leben und Tod im Detail kritisch auseinanderzusetzen, was bedauerlich ist. Doch dafür sei an dieser Stelle auf seine umfangreiche Literatur zum Thema, was Menschsein bedeutet, hingewiesen. Gewiss eine lohnende Herausforderung für alle, in denen die Liebe zum Erkenntnisgewinn noch nicht erloschen ist.

In Anbetracht seiner Gedanken über Leben und Tod möchte ich nun auf eine persönlichere Ebene gehen."Unterwegs nach Damaskus" war sein erstes Buch in deutscher Sprache. Erst kurz zuvor war er von Armenien nach Basel übersiedelt. Ich war nun zufällig die erste private Person, die ihn betreffend dieses Buches anschrieb und Kontakt mit ihm aufnahm. Warum? Es war ein Einschlag in meine Denkweise, die tatsächlich vieles auf den Kopf stellte. Politisch in den 70er/80er Jahre eher mehr linksorientiert (bei den 68ern fast Mainstream) hatte ich Fragen über Fragen angesichts seiner scharfsinnigen und teils bitterbösen Analysen, die mir häufig den Atem verschlugen. Ich musste umdenken lernen, wenn ich verstehen wollte… Und verstehen wollte ich, auch wenn es so mancher Überzeugung zuwider lief. Ich musste als Waldorfmutter nun doch tiefer in die Anthroposophie einsteigen, um jene teils krassen Anschauungen nachvollziehen zu können, die er politisch, kulturell, gesellschaftlich, zwischenmenschlich von sich gab. Es fiel mir schwer, aber ich blieb am Ball und arbeitete mich über die Jahrzehnte durch alle seine Bücher. So vieles, was nun erwähnt werden müsste, wie z.B. seine Werke: "Das Abendmahl des Menschen", "Zur Geschichte der Zukunft", "Nietzsche – Versuch einer Gottwerdung". – Nicht alles konnte ich bejahen, aber immer wieder neu erstaunend, beeindruckt, mich teilweise selbst korrigierend und vieles, was in meinem Denken festgezurrt schien, nun wieder aufschnürte… einer höheren Betrachtung zuliebe, die ihr Endstadium in mir noch lange nicht erreicht hat.

Die Brillanz seines Denkens nahm mich gefangen, gepaart mit dem genialen Talent einer Sprachkraft, die mich tief in den Bann zog und das Denken zur Freude machte. Trotz und wegen der Anstrengung, die er abverlangte. Diese Sprachkraft setzte Prof. Swassjan in radikaler Weise ein, um seine Sichtweise von Menschsein und Gesellschaft, Evolution, Entwicklungspsychologie und Kultur – vor allem immer auch unter dem strengen Aspekt der Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner – in neuartiger Weise interessierten Menschen nahezubringen. Sein Anspruch dabei: Hoch, sehr hoch! Zu Hoch um Erfolge in großer Zahl zu generieren. Doch konnte und wollte er nicht anders, als seinem hohen, höchsten Niveau selbst treu bleiben – auch um den Preis, nur einen kleineren Kreis von Menschen zu erreichen. Ich fand das sehr bedauerlich, konnte es zugleich aus seinem Blickwinkel aus verstehen. Quantität schlägt eben keine Qualität.

Ihm zu begegnen war so etwas wie ein Schicksalsmoment. Entweder man erkennt "ihn" (den Moment, den MENSCHEN) – oder eben nicht. Entweder man ist ihm gewachsen oder muss, wie ich, sehr große Mühen aufwenden, um all dem aus eigener Kraft langsam entgegenzuwachsen. Das macht man jedoch nur, wenn man es für lohnend hält. Wenn da eine Qualität aus der Zukunft lockt, der man sich nicht entziehen möchte, auch wenn es eine mentale Kärrnerarbeit bedeutet.

Nach dem ersten Kontakt folgte über einige Jahre eine fruchtbare Zusammenarbeit, in dem ich eine Reihe Vorträge für ihn im Rheinland vermittelte. Nicht selten ließ er so manch einen Menschen verdutzt, auch empört zurück. Denn er bediente keine Erwartungen, sondern zeigte Neues, bisher Unbedachtes in neuen Zusammenhängen auf. Viele Menschen nachher gingen grübelnd, sinnend, zweifelnd aus so manchen Vorträgen. Zweifeln ist immer gut, denn es kann der Startschuss für die eigene Weiterentwicklung sein, die bei so manchem Erwachsenen doch auch schnell in Stagnation zu fallen droht. Er war ein Aufwecker für die, die zuhörten und Dinge anders und neu zu denken wagten.

Er war – nach den heutigen Maßstäben politischer Einordnungen – eine Art Rechtskonservativer. Also jemand, dem ich von Hause aus eher wohl nicht so gut zugehört, gar je seine Seminare besucht hätte. Einer, der auch in kultureller Ansicht eine so völlig andere Lebensbiografie und damit Prägungen hatte, wo vieles zwischen uns auch nicht zusammenkam. Doch diese Grenzen wurden zwischen uns aufgehoben. Denn ich fühlte zuerst und erkannte es auch später: Es sind doch nur Kinkerlitzchen, wenn es ums Wesentliche des Erfassens der Wirklichkeit geht. Wenn es darum geht, in die authentische Eigenkraft zu kommen, die Kraft des Schöpferischen zu erfahren, selbst schöpferisch zu werden. Eine Kraft, die sich vor allem auch darin äußert, dass das eigene Denken eine neue Stufe von Niveau und Anspruch erfährt. Ein Startschuss fürs Tun. – Das passierte mir unter seinem Einfluss, trotz auch trennender Momente.

Seine intensiven Wochenseminare, die von morgens bis oft spät in den Abend gingen, waren meist nur von wenigen Menschen besucht. Aber sie hatten eine solche Kraft und Atmosphäre, dass man Hunger und Durst vergas und notwendige Pausen nur noch als Störung empfand. So zumindest erging es mir über Jahre. Humorvoll war er, aufs Ästhetische bedacht. Kein Geschwafel, an keiner Stelle. Bescheiden war er, zurückhaltend, und dennoch ein wahrhaft großer Kämpfer in seiner Sache. Seine Belesenheit, sein Wissen, seine messerscharfen Antworten, alles war bannend und intensiv, dass es Spuren hinterlassen musste. Ein Präger war er also auch.

Unbarmherzig streng und klar war er in der Sache. Eine Gegnerschaft mit ihm war immer auch heftig. Doch das bezog sich nicht aufs Menschliche, sondern immer nur auf das Mentale, Gedankliche, auf Behauptungen, die er oft mit einem Federstrich entlarvte und auch hier eine Genialität zeigte, die immer wieder neu beeindruckte. 

Ich fürchte, er wurde von zu wenigen Menschen zu Lebzeiten verstanden. Denn die Abwesenheit des Denkens in seinem Sinne ist längst zu einem globalen Problem geworden. Insofern lebte er tatsächlich als lebender Mensch in einer toten Welt und als Verstorbener gewiss in einer höchst lebendigen… doch diesen Gedanken muss man sich erst einmal erarbeiten, will man nicht zum Gläubigen werden. Gläubig war er (im herkömmlichen Sinne) nicht. Denn seine Art des Denkens machte das Glauben überflüssig.

Was war Karen Swassjan für mich? Ein beeindruckender Denker, eine Inspiration, eine große Herausforderung, ein unbarmherziger Spiegel meiner eigenen (Un-)Fähigkeiten, der mir nicht nur meine Grenzen zeigte, sondern motivierte, sie zu erweitern. Jetzt, während des Schreibens, frage ich mich: Könnten nicht ausgerechnet seine bisher viel zu wenig beachteten Schriften auch nach seinem Tod geeignet sein, die tote Welt des Denkens neu zu verlebendigen und uns allen mehr Kraft für die anstehenden Probleme der Zukunft geben? 

Ich bin dankbar, ihm begegnet zu sein. Es hatte Formkraft.



Foto: von User:Illkar – w:File:Karen-swassjan.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15192159

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