Tamtam und Tabu. Gedanken zum Buch von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld
von Michael Mentzel
"Manchmal fallen mir Bilder ein …" sang einst Reinhard Mey. Und so ging es auch mir in der Zeit, die alle die "Wende" nannten, als ich im tiefen Schwarzwald ein paar Tage Urlaub in einer kleinen Ferienwohnung machte.
Im Kopf immer noch Bilder des Mauerfalls, unbändige Freude, die ersten Besuche bei Verwandten, Staunen über die manchem fremd erscheinenden Lebensumstände, die Entscheidung über die neue, alte Hauptstadt war noch nicht gefallen, Politikerreden, die ihre Worthülsen über eine in Aufbruchsstimmung befindliche Menschenschar stülpten und dieser eine Zukunft ausmalten, wie sie nicht schöner und blühender sein könnte. Alles war irgendwie neu. Der vormundschaftliche Staat (Rolf Henrich) hatte aufgehört zu existieren und die Freiheit schien nicht mehr nur über den Wolken grenzenlos, sondern zum Greifen nah. Brüder und Schwestern wollten wir nun wirklich sein und … so jedenfalls dachte ich seinerzeit in meinem individuellen Anarchistendasein, eine gemeinsame Zukunft neu gestalten und das jeweils Beste aus beiden Welten zusammenfügen.
In dieser kleiner Ferienwohnung nun schrieb ich auf meiner mitgebrachten Reiseschreibmaschine ein kleines Lied über eine in jener Wendezeit erlebte Wahlveranstaltung in Bitterfeld.
lautsprecher wirbeln die dicke luft umher
dahinter die herren mit krawatten
fast ein tag wie jeder andere
mitten in der de de er
rauch aus den schloten von bitterfeld
wo man singt, da lasst euch ruhig nieder
es kommt bald die macht und das große geld
und es kommen von selber die lieder
wieder.
aus dem blindflug-projekt 1982 – heute
Warum erzähle ich das?
Dass es ein schöner Traum war, wurde relativ schnell deutlich, als der Runde Tisch plötzlich keine Option mehr war, sich neue Seilschaften bildeten, allenthalben die Aussicht auf den schnellen Gewinn überhand nahm und die Illusion der friedlichen Revolution unter dem Banner von Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit vor unseren Augen zerbröselte.
Tamtam und Tabu
"TamTam und Tabu" in seiner aktuellen Version ist eine um die Aspekte des Ukraine-Krieges erweiterte Neuauflage des 2020 erschienenen gleichnamigen Buches, in dem sich Daniela Dahn, Schriftstellerin, Essayistin und heute u.a. Mitherausgeberin von Ossietzky, der damaligen "Weltbühne" und Rainer Mausfeld, Kognitionsforscher und Autor von "Warum schweigen die Lämmer?" mit den Vorgängen beschäftigen, die zur Wendezeit 1989/90 die öffentliche Meinung in die vom Westen gewünschte Veränderungsrichtung gelenkt haben. Dabei geht es auch um eine "…Entschleierung des damaligen medialen Tamtams, mit dem sich eine freie Urteilsbildung behindern und Affekte lenken ließen".
Während Daniela Dahn in diesem im Westend-Verlag erschienenen Buch die Geschehnisse (das Tamtam) sehr akribisch und detailgenau Revue passieren lässt und die Leserinnen und Leser damit noch einmal sehr nah an den damaligen Vorgängen teilhaben lässt, richtet Rainer Mausfeld seinen kritischen Blick auf die "illusionserzeugende Kraft der westlichen Ideologie und damit auf das versprochene Paradies einer kapitalistischen Demokratie, zu deren Herrschaftsmethoden es gehört, die Gesellschaft zu spalten …" und sie mit Hilfe "von Techniken der Indoktrination" zu beeinflussen. Und weiter: "Heute werden die zerstörerischen Folgen einer auf dem Recht des Stärkeren basierenden kapitalistischen Weltordnung, wie sie der Westen unter Führung des USA zu errichten sucht, immer deutlicher erkennbar und spürbar. Das führt zu der Frage, wie sich die Idee einer radikalen Demokratisierung wieder gesellschaftlich wirksam machen lässt."
Das Buch beginnt mit einem Gespräch der beiden Autoren über die "Zeitenwende" seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. Rainer Mausfeld konstatiert ein Versagen der EU in "historischem Ausmaß" und prophezeit ihr, dass sie zu den Verlierern dieser Krise zählen wird. Der Grund: Die EU hätte die Krisenregie vollständig an die USA abgetreten und "den Wohlstand ihrer Bürger den imperialen geopolitischen Zielen der USA untergeordnet". Erschreckend für Mausfeld ist hier die große Bereitschaft der deutschen Politik, "dem von der US-Regierung vorgegebenen Ziel 'Russland zu ruinieren', bedingungslos zu folgen, bis hin zu dem Preis einer US-geleiteten Selbstverstümmelung der deutschen Wirtschaft." Hier, so will es scheinen, hat Mausfeld Recht, denn das Ergebnis dieses Handelns ist eine Veränderung der Stimmung in der Bevölkerung, die sich derzeit nicht gerade als euphorisch bezeichnen lässt, weshalb sich die Politik aktuell darum bemüht, den Wahlerfolg der AFD in Niedersachsen mit dem Hinweis auf ein gestiegenes Protestverhalten zu erklären, vielleicht aber auch zu relativieren.
Daniela Dahn merkt an, dass die "für die damalige Wendezeit angewandte Betrachtungsmethode von 'Tamtam und Tabu' " wohl auch heute gelten kann, denn es muss gefragt werden, "was wird auch jetzt aufgebauscht, was verschwiegen?" Und sie mutmaßt, "Deutschland nutzt die Gelegenheit", sich von seinen "einstigen Befreiern" zu befreien: "Der Wille, alle Bedenken fallen zu lassen, ist atemberaubend."
Was dieses Buch auszeichnet, ist der unaufgeregte Stil der jeweiligen Betrachtungen, hier der essayistische Blick, dort eher technisch-wissenschaftliche Ausführungen, hier die Menschen und ihre Bedürfnisse, Wünsche und nachvollziehbare Handlungen im Blick, dort die hinter den Dingen stehenden Verhaltensweisen und Handlungen verständlich erklärt und näher ausgeleuchtet.
Wenn ich den Lesegewinn dieses Buches für mich zusammenfasse, so ist es heute wie damals das Erlebnis, dass ein verklärtes oder verklärendes Bild der Vorgänge jener Zeit einer sachlicheren und damit deutlicheren Betrachtung gegenüber gestellt werden und deutlich machen kann, wo die Interessen 'des Westens' lagen, wer hinter den Dingen stand und mit welchen Maßnahmen diese Interessen verfolgt und schließlich durchgesetzt wurden. Das Buch ist somit ein Lehrstück über die interessengesteuerte Meinungsmanipulation und -lenkung einer Bevölkerung, die sich mehrheitlich auch heute von dem wohligen Gefühl leiten lässt, zu den Guten zu gehören und damit automatisch natürlich auch meint, zu den Gewinnern gehören zu müssen.
Dass diese Bevölkerung über einen vermeintlich 'runden' Tisch gezogen wird und der Illusion einer Mitbestimmung erliegt, die durch allerlei Schnickschnack und "Tamtam" zu dieser Illusion beitragen, stört sie dabei nur am Rande, weil der von den meisten Menschen verinnerlichte Wahlspruch unserer Eliten-Demokratie immer noch gilt: Die Show muss weitergehen! Oder auf gut Deutsch: "the show must go on!"
Der Klappentext
Es ist eigentlich ein Unding, eine Buchbesprechung mit einem Klappentext des Verlages zu beenden, der doch eigentlich nur dazu dient, den potentiellen Käufer im Laden zum Kauf des Buches zu animieren. Nun ist meine Betrachtung, sie werden es bemerkt haben, ja auch keine eigentliche Buchbesprechung, sondern eine kleine Ansammlung der Gedanken, die mich bei der Lektüre bewegt haben.
"Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist wieder von »Zeitenwende« die Rede. Seither wiederholen sich vor allem in den Medien Phänomene, die schon bei der Wende zu beobachten waren. Daniela Dahn, renommierte Essayistin und Mitbegründerin des »Demokratischen Aufbruchs« in der DDR, und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld beschäftigen sich unter dem Aspekt der Meinungsmanipulation mit den Kontinuitäten, die beide Ereignisse miteinander verbinden. Daniela Dahn untersucht, wie 1989 in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Presseschau wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert. Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie. Die Erkenntnisse werden in grundlegenden Gesprächen vertieft und in mit der gegenwärtigen Krise in Beziehung gesetzt. Das Buch liefert einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie."
Foto: screenshot verlagsvideo
Tam Tam und Tabu.
Von der Einheit bis zum Krieg
Westendverlag
ISBN 978-3-86489-915-7
12,00 Euro / 258 Seiten