Über Ulrike Guérots Buch "Wer schweigt, stimmt zu."
von Ortwin Rosner – Die standhafte Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die schon während der ganzen Coronakrise Mut und Charakter bewiesen hat, hat einen fundamentalen Essay zu den tiefgreifenden demokratie- und medienpolitischen Umbrüchen der vergangenen zwei Jahre verfasst. Das Werk einer Systemkritikerin, die eigentlich lieber keine wäre, gibt nicht nur Rückschau auf bisweilen Unfassbares und warnt auch nicht bloß vor einer bedrohlichen Zukunft, ihr Buch ist überdies Appell, Vision und Gegenrezept.
Bevor ich auf das Buch von Guérot selbst zu sprechen komme, einleitend ein paar umfassendere Gedankengänge, mit denen ich ihr politisches Engagement breiter kontextualisieren und würdigen will. Denn vielleicht ist es ein charakteristischer Effekt der tiefgreifenden Diskursverschiebungen nicht etwa bloß der vergangenen zwei Jahre, sondern der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, dass prägnante Gesellschaftskritik nicht mehr aus den Ecken kommt, von denen man es früher einmal gewohnt war. Keine Rede mehr von Studentenrevolte, auch die einstmals wilde Kunst- und Kulturszene ist brav und konformistisch geworden, und fast die gesamte Linke samt der anti-faschistischen Bewegung ist zum autoritären Staat übergelaufen. Mit anderen Worten: Die althergebrachten Koordinatensysteme stimmen einfach nicht mehr, sie sind am Zusammenbrechen. Stattdessen kommt die Rebellion heutzutage bisweilen von einer Seite, von der man es gar nicht unbedingt erwartet hätte. Und damit meine ich nicht die Rechtspopulisten.
Bemerkenswerte Fälle von Häresie
Ein Beispiel: Nils Melzer, jener UN-Sonderbeauftragte für Folter, der sich seit dem Frühjahr 2019 vehement für den in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis verrottenden Journalisten Julian Assange einsetzt und sich dadurch die gesamte westliche Staaten- und Mediengemeinschaft zum Feind gemacht hat, ist eigentlich alles andere als ein Revoluzzer. Nicht irgendein umstürzlerisches, linkes Ideengebäude, sondern gerade seine konservative Werthaltung ist es, die den christlich-gläubigen Schweizer Rechtprofessor zu seinem unbeirrten Eintreten für Grundrechte befähigt.
Oder man denke an Peter Handke. Während andere der einst kritischen 68er-Generation bereits zu Transatlantikern mutiert waren, verfasste der bis dahin eigentlich als unpolitisch geltende Schriftsteller Mitte der 90er-Jahre plötzlich die "Winterliche Reise", ein Buch, das die journalistischen Grundlagen der Interventionen des Westens im ehemaligen Jugoslawien in die Luft sprengte.
Gerade an Handke lässt sich die Zuspitzung des öffentlichen Diskurses übrigens recht gut ablesen. Zwar gab es auch in den 90ern Entrüstung über ihn, aber das war nichts gegen den monatelang anhaltenden Rufmord durch den Meutenjournalismus auf allen Kanälen, den die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2019 an ihn auslöste. Die Zeiten haben sich geändert, der Diskurs kippt in den Totalitarismus, und folgerichtig zeichnet sich eine verschärfte Gangart der Mainstream-Medien gegenüber kritischen Stimmen ab.
Womit wir bei den Dammbrüchen der Corona-Debatte gelandet wären und zu Guérots frisch erschienenem Buch kommen, das gerade diesen Verfall der politischen Öffentlichkeit skizziert. Demzufolge lautet sein Titel: "Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen." Ähnlich wie Melzer ist aber auch Guérot ja nicht gerade als linksradikaler Bürgerschreck bekannt, sondern war, wenn man so will, Teil des "Mainstreams", also des Establishments, hat in ihm so richtig Karriere gemacht und gewissermaßen an ihn geglaubt. Bis sie plötzlich merkte, daran stimmt etwas nicht.
Guérots Forderungen: Eigentlich eine Selbstverständlichkeit
Und ähnlich wie Melzer im Fall Assange sagt auch Guérot seit mittlerweile zwei Jahren im Zusammenhang mit der Corona-Debatte im Grunde nichts Revolutionäres oder sonst auf irgendeine Weise Sittenwidriges. Ganz im Gegenteil. Denn man sollte meinen, dass es etwas Normales wäre, sich für die Beibehaltung derjenigen demokratischen Mindeststandards und Grundrechte einzusetzen, die ja seit Mitte des 20. Jahrhunderts untrennbar mit dem fraglosen Selbstverständnis des Westens verbunden sind. Verwunderlich ist eher umgekehrt, dass auf einmal diejenigen, die das tun, sich in einer Außenseiterposition wiederfinden.
Guérots Rebellion gegen das System ist also paradoxerweise latent eine tiefe Systemtreue, indem sie die offiziell vom System vertretenen Werte ernster nimmt als diejenigen, die darin inzwischen die Macht übernommen haben, sie aber, falls überhaupt, bloß nur noch als Lippenbekenntnisse im Mund führen. Die Politikwissenschaftlerin will demzufolge erst einmal eigentlich auch keinen radikalen Umsturz, sondern das bewahren, was bisher als selbstverständlich gegolten hat. Dazu gehören Meinungsfreiheit, Pluralismus, Selbstbestimmung der Individuen über sich selbst, über ihren Körper, also generell einfach alle diejenigen fundamentalen Grund- und Freiheitsrechte, die uns nicht nur während der Krise sukzessive entzogen worden sind, sondern darüber hinaus scheint mit einem Mal auch jedes tiefergehende Verständnis dafür verloren gegangen zu sein, was sie eigentlich bedeuten.
Dass diese eigentlich konservativ wie bescheiden anmutenden Forderungen Guérots heutzutage als eine Außenseiterposition im öffentlichen Diskurs dastehen und plötzlich den Geruch des Radikalen bekommen haben, dass sie darum sogar Schwierigkeiten hatte, einen Verlag zu finden, das illustriert bereits die tiefgreifenden Deformationen, die unser demokratischer Diskurs in den letzten beiden Jahren erfahren hat und die zu beschreiben sie in ihrem 140 Seiten langen Essay unternimmt.
Wahrheit, Pflicht und Gehorsam
Ausgangspunkt des Buches ist demzufolge auch eine gewisse Fassungslosigkeit(die wohl viele Beobachter des Zeitgeschehens mit ihr teilen) über den Verlauf des öffentlichen Diskurses während der vergangenen zwei Jahre:
"Alle drängten unter Panik in einen Zug, der immer schneller an Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Coronamaßnahmen. Wer, wie ich, nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte aus beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet." (1)
Wie in einem Hirnsturm lässt Guérot im ersten Teil des Textes vieles von den absurden Absonderlichkeiten der vergangenen zwei Jahre bunt durcheinander gewürfelt vorüberziehen. Besonderes Augenmerk richtet der Essay dann jedoch auf den irreführenden Begriff von Wahrheit, der die öffentliche Debatte in dieser Zeit durchgängig beherrscht hat. Es handelt sich dabei um eine tyrannische Idee von Wahrheit, die, wie Guérot recht gut herausarbeitet, weder mit Demokratie kompatibel ist noch ein realistisches Bild von Wissenschaft selbst wiedergibt. Überzeugend skizziert sie, wie aus menschlich gemachter, fehlerhafter Wissenschaft eine Art Religion gemacht wurde. An einer Stelle, die einem jedem Leser unwillkürlich im Kopf hängen bleiben wird, entlarvt Guérot auf besonders anschauliche Weise den Unsinn naiver Wissenschaftsgläubigkeit:"
Es gibt ungefähr 600 Studien zur Frage, ob Kaffee gut oder schlecht für die Gesundheit ist. Die Ergebnisse variieren von ganz schlecht (Herzrasen) bis sehr gut (belebend). Die Entscheidung darüber, welcher Studie Sie persönlich glauben, hängt am Ende schlichtweg davon ab, ob Sie Kaffee mögen oder nicht." (2)
Immer wieder richtet sich Guérots Impuls — mit wiederholtem Bezug auf Hannah Arendt — auch gegen das neue autoritäre Denken, das einen absoluten Gehorsam gegenüber in jüngster Zeit gehypten Ideen von Moral und Pflicht verlangt. In einer geradezu luziden Passage formuliert sie eine eindringliche Warnung:
"Soll man sich heute aus Pflicht und Solidarität impfen lassen für den anderen, so wird man vielleicht morgen seine Niere, seine Stammzellen oder sein Blut für einen anderen geben müssen, bei dem oder der diese Dinge besser verwertet werden können — oder der einfach mehr Geld hat. Niemand garantiert, dass, wenn es heute zur Pflicht wird, etwas in den eigenen Körper injizieren zu lassen, es morgen nicht Pflicht ist, etwas davon herzugeben." (3)
Abrechnung mit Žižek & Co.
Die globale Linke, so konstatiert Guérot, hat diese Gefahren nicht erkannt und versagt, weil sie "[d]em Nimbus der Solidarität […] erlegen" (4) sei. Und in diesem Zusammenhang teilt die Politikwissenschaftlerin auf derart erfrischend respektlose Weise gegen linksintellektuelle Ikonen aus, dass man sich etwa den folgenden Satz am liebsten zuhause an die Wand hängen möchte:
"Žižek, Chomsky oder auch Habermas schrieben ihre dümmsten Artikel ever." (5)
Und sie gibt zu bedenken:
"Was von der Linken noch letztes Jahr triumphal als Rückkehr des Staates gefeiert wurde, könnte sich indes bald als sein Ausverkauf entpuppen. Ebenfalls auf dem Altar der Lebensrettung landen könnten das Prinzip des Politischen selbst, die Demokratie und ihre beiden Grundpfeiler, das mündige oder emanzipierte Individuum, sprich Autonomie und Selbstbestimmung." (6)
Diese Zeilen gibt der Autor der Rezension durchaus selbstkritisch wieder, denn auch er war — nicht anders übrigens als etwa der deutsche Fernsehphilosoph Richard David Precht — ganz am Anfang der Pandemie dem Irrtum verfallen gewesen, die angesichts der Bedrohung durch das Virus global einsetzenden Corona- und Lockdown-Maßnahmen wären nicht unbedingt etwas Schlechtes, sondern könnten ganz im Gegenteil eine Art linker Morgendämmerung sein, ein Wiedergewinnen der Autonomie des politischen Handelns gegenüber der Vorherrschaft kapitalistisch-ökonomischer Interessen. Ich selbst war also anfangs durchaus in den Zug eingestiegen, in den Guérot nicht eingestiegen war.
Transhumanismus
Mit Blick auf den ins Haus stehenden digitalen Impfpass, die tiefgreifenden Verflechtungen der Politik mit WHO, Pharmaindustrie und Gentechnik-Lobbys, wie sie mittlerweile zutage getreten sind, sowie andere sich abzeichnende drastische Entwicklungen muss nun allerdings jeder wachsame Mensch die Befürchtungen Guérots ernst nehmen:
"Anstatt in einer posthumanen Gesellschaft zu landen, in der der Mensch nicht mehr das Epizentrum das Planeten und Geld nicht mehr die Messgröße für Erfolg ist, könnte das Pandemiegeschehen den Weg in einen technologiegetriebenen Transhumanismus ebnen, den letzten großen Traum eines sinnentleerten, dafür aber autoritären Kapitalismus […] Die Impfpflicht ist möglicherweise nur der Einstieg in eine unverfrorene Ausweitung der kapitalistischen Landnahme durch einen ‚Gebrauch der Körper‘ (Giorgio Agamben), indem der Körper selbst zum verhandelten Objekt von Politik und Gesellschaft wird. Und damit zur Grundlage eines digital-biometrischen Komplexes, der den ausklingenden Zyklus des militärisch-industriellen Komplexes ablöst." (7)
Für eine neue radikale Aufklärung
Über weite Strecken ist Guérots Essay nichtsdestoweniger bloßes Brainstorming, enthält viel Unabgeschlossenes und infolgedessen wenig gründlich Durchargumentiertes. Eine dichte Menge von Gedanken und Hinweisen wirbelt ungeordnet durch das Buch, und man muss auch als Sympathisant nicht unbedingt mit jedem einzelnen Gedankengang übereinstimmen, man bleibt ja dennoch immer noch kritischer Leser. Tatsächlich reißt der Essay viele Problematiken nur flapsig an, die in voller Tiefe auszudiskutieren er freilich auch gar nicht angetreten ist. Er ist, so könnte man seine Mängel ins Positive umdeuten, überhaupt erst Beginn einer Diskussion, oder sollte es sein. An vielen Stellen des Textes würde es sich lohnen, nachzuhaken, um andernorts mehr daraus zu machen.
Demzufolge mündet der Aufsatz in einen langen Appell, in einen Aufruf an uns alle, in eine Vision oder Utopie, wenn man so will. Hier wird Guérot nun wirklich radikal. Denn es handelt sich einerseits dezidiert um einen Aufruf zu einer "neuen radikalen Aufklärung" (8), andererseits aber auch um einen Aufruf zum unmittelbaren politischen Handeln, der etwas Mitreißendes hat und tatsächlich radikale Forderungen enthält:
"Zuerst räumen wir auf, jeder in seinem Land. Wir überantworten die Verantwortlichen dem Internationalen Strafgerichtshof […] Wir bitten die USA, sich um Anthony Fauci und Bill Gates zu kümmern. Wir schließen die WHO und durchforsten ihre finanziellen Verstrickungen mit der Pharmaindustrie. Wir lassen die dunklen Gestalten von Pfizer & Co. nicht entkommen […] Wir setzen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. […] Wir machen die Krankenhäuser wieder zu Anstalten des öffentlichen Rechts […] Wir lehren unsere Kinder, das Geldsystem infrage zu stellen […] Wir holen unsere Alten wieder aus den Pflegeheimen […] Wir gründen neue Zeitungen und Magazine […] Wir verweigern die digitale Welt von Xi Jinping oder Mark Zuckerberg, die Welt der QR-Codes […]" (9) usw., usf.
Und ganz am Schluss des Bändchens bündelt Guérot all diese Aufrufe noch einmal zu der einen richtungsweisenden Frage, die im Untertitel des Buches steht und die angesichts der vergangenen zwei Jahre auf fundamentale Weise zu stellen tatsächlich an der Zeit ist: Wie wollen wir leben? (10)
Ulrike Guérot: "Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen." Westend, Frankfurt/Main 2022
Dieser Beitrag erschien zuerst auf tpk Der Blog für Science & Politik
Fußnoten
(1) S. 10
(2) S. 64/65
(3) S. 100
(4) S. 94
(5) Ebd.
(6) S. 94/95
(7) S. 95
(8) S. 82
(9) S. 116-120
(10) "All diese Fragen und Überlegungen müssen jetzt dringend auf den Tisch und unter dem Hashtag #wiewollenwirleben? geführt werden, deutschlandweit, am besten europaweit." S. 132
foto: commonwiki / Ulrike Guérot (Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance, Berlin)Stephan Röhl http://www.stephan-roehl.de
Weitere Hinweise
https://www.youtube.com/watch?v=hcbf5T5QNzI
https://punkt-preradovic.com/das-versagen-der-linken-ist-kolossal-mit-prof-dr-ulrike-guerot/
https://www.nachdenkseiten.de/?p=81609
https://publikumskonferenz.de/blog/2022/03/11/rezension-wer-schweigt-stimmt-zu/
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
"Wer schweigt stimmt zu". (???)
Ein anregender Text, aber der Buchtitel gefällt mir nicht.
Mein Freiheitsbegriff beinhaltet auch das "SCHWEIGEN" als besonders wichtige
Strategie bezogen auf Begriffe wie Toleranz, Individualität, Schönheit.
Es gibt Ereignisse die erfordern zunächst einmal das Schweigen um sie in Ruhe
und Gelassenheit geistig-seelisch zu bewegen.
Ein Thema z.Beispiel " Atomenergie" oder "Atomwaffenarsenale".
Der Dichter Jan Skàcel (wundklee) schreibt:
die menschen nehmen einander wegen der stille
man hört sie nur zu zweit anders nicht
und anders erdrückt sie anders bricht
der mensch zusammen unter der stille
Herzliche Grüße
Wolfgang Püschel
Grevenburg,den 5.4.2022