Wolfgang Held, Chefredakteur der anthroposophischen Wochenschrift "Das Goetheanum" im Gespräch mit Gerald Häfner, von 1987 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages für Bündnis90/Die Grünen. G.Häfner war unter anderem Mitbegründer von "Mehr Demokratie" und ist seit seit 2015 Leiter der Sektion für Sozialwissenschaften am Goetheanum.
Nach der Wahl zum Deutschen Bundestag verhandeln SPD, Grüne und die FDP miteinander, ob und welche Politik sie in Zukunft gemeinsam verwirklichen wollen. Gerald Häfner sieht darin eine Chance. Ein Gespräch.
Wolfgang Held: Wie interpretierst du die Wahl?
Gerald Häfner: Im Vergleich zu den Wahlen in benachbarten Demokratien hat sich die politische Kultur in Deutschland als reif und wandlungsfähig erwiesen. In vielen Ländern wurde der Wahlkampf banalisiert und auf ein "er oder ich", eine Art "12-Uhr-Mittags"-Duell reduziert. In der heutigen Medienwelt der emotionalen und aggressiven Zuspitzung und der Filterblasen werden immer seltener Argumente abgewogen und Konstellationen gewählt, sondern vielmehr Führerfiguren an die Macht gehievt – mit furchtbaren Folgen.
Angesichts dieser Erosion gibt es in Deutschland nach wie vor eine vielfältige politische Landschaft. Die verschiedenen Strömungen und Personen konnten sich artikulieren und die Bürgerinnen und Bürger haben, wie ich finde, abgewogen und nachvollziehbar gewählt. Das heißt nicht, dass sie so gewählt haben, wie ich es mir gewünscht hätte. Das kann in einer solchen Bewertung auch nicht der Maßstab sein. Ich finde vielmehr, dass das Wahlergebnis gut spiegelt, was an Sorgen und Hoffnungen in der Bevölkerung lebt. In solch schwierigen Zeiten verkürzter Erzählungen und geschürter Feindbilder, die viral verbreitet werden, in solchen Zeiten auch vieler unpolitischer Debatten, die Politik durch Entertainment ersetzen, hat sich das politische System bewährt. Das freut mich außerordentlich.
Ein Drittel der Wählenden sind über 60. Was bedeutet dieses Gewicht der älteren Bevölkerung?
Das hat natürlich Folgen. So ist die Wahrung von Besitzständen und die Angst vor zu abrupten Veränderungen für viele ein Motiv. Deutschland ist ja ein alterndes Land, in dem die junge Generation eine schwindende Minderheit ist. Hinzu kommt, dass nur ein Teil der jungen Menschen überhaupt eine Chance sieht, in dem politischen System mitwirken und etwas verändern zu können. Viele der jungen Menschen haben sich enttäuscht abgewendet. Sie meinen, dass Wahlen wenig ändern können. Andere haben sich mehr still verabschiedet. Für sie stehen die eigenen Interessen wie auch die eigene Zerstreuung und mediale Inszenierung so im Vordergrund, dass sie noch gar nicht für die Angelegenheiten des Gemeinwesens aufgewacht sind, geschweige denn sich dort engagieren wollen.
Was bedeuten hier die drei Youtube-Filme von Rezo? Bis in die Abendnachrichten hat der junge Filmer es geschafft und Millionen Klicks bekommen.
Hier hat ein Teil der jüngeren Kultur Eingang in die Debatte des Mainstreams gefunden. Das ist sehr selten. Es ist erfreulich, doch in meinen Augen noch nicht nachhaltig. Es zeigt aber, was werden kann, wenn jüngere Menschen aus den medialen Parallelwelten auftauchen und mit all ihren stupenden Fragen und Fähigkeiten zurückkehren in die reale Welt.
Erstmals gibt es nicht eine einzelne starke Kraft bei der Wahl, sondern mehrere im Mittelfeld. Wie bewertest du das?
Das ist gut! Es ist nie klug, zu viel Macht in die Hände von zu wenigen zu legen. Ich gehe so weit, zu sagen: Die Menschen haben klug gewählt. Sie haben unbewusst die Dreigliederung gewählt! Sie haben, zuerst und vor allem, für mehr soziale Gerechtigkeit gestimmt. Die haben wir in diesem Land und auch weltweit dramatisch vernachlässigt. Das hatte sich die SPD mit dem Ruf nach mehr Respekt gegenüber jedem Menschen und für alle Mitglieder der Gesellschaft auf die Fahne geschrieben. Die Bürgerinnen und Bürger haben, zweitens, zugleich für mehr und eine neue globale Brüderlichkeit gestimmt: Das Thema des Klimawandels betrifft nichts anderes als die Erkenntnis, dass wir auf diesem Planeten nicht allein sind. Alles, was wir hier tun, hat Auswirkungen auf alle anderen Menschen, Pflanzen und Tiere, auf die Erde als Ganzes. Da gilt es, den Egoismus zu überwinden. Wir müssen lernen, geschwisterlich mit der Erde umzugehen. Das war das Hauptthema der Grünen! Dieses Thema hatte zu Beginn ja den ganzen Wahlkampf bestimmt. Trockenheit, Waldbrände, sterbende Bäume und reißende Hochwasser unterstrichen dabei die Unausweichlichkeit einer tiefgreifenden Politikänderung in diesem Bereich. Doch nach dem Höhenflug im Frühsommer verloren die Grünen an Zustimmung, weil sie seelisch nicht die ganze Gesellschaft mitnehmen konnten. Das hatte auch mit einer Änderung in Personal und Ton zu tun. Gerade in der Pandemiedebatte wirkten manche Voten hier oberlehrerhaft und kühl, zu sehr nach "Zeigefingerpolitik" und Verordnungen von oben.
Wie können wir soziale Verantwortung mit Freiheit verbinden? Das ist eine entscheidende Frage, die die meisten umtreibt.
Das – und die angesichts der Entwicklung zunehmend weniger verständliche, einseitig auf obrigkeitsstaatliche Maßnahmen setzende Pandemiepolitik – führte dazu, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung sich zunehmend sorgte, die Freiheit könnte unter die Räder kommen. Das hat dazu geführt, dass auf der Zielgeraden der Wahl, also in den letzten drei Monaten, eine Partei, die fast abgeschrieben war, enorm an Stimmen gewann, die FDP. Man merkte plötzlich: Man braucht auch noch eine Partei, die für die Freiheit eintritt. Auch wenn die Art und Weise, in der diese auftritt und sich äußert, eher die Freiheit der 1990er-Jahre beschwört als die neu zu buchstabierende Freiheit des 21. Jahrhunderts – aber ohne die Freiheit ist auch die bestgemeinte Politik nichts.
So haben die Bürgerinnen und Bürger unbewusst einen neuen Regierungsauftrag geschaffen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Regierung auf der Höhe der Zeit als politische Aufgabe zu verwirklichen. Diesen drei Parteien und den von ihnen benannten Personen haben sie das am ehesten zugetraut. Jetzt ist nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen der drei Parteien das selbst begreifen und ihre Rolle darin mutig und zukunftsoffen ergreifen!
Dabei zeigen sich jetzt interessante Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe.
Das ist auch das Schöne. Etwa in der FDP. Man hat sie bis vor einem viertel Jahr nur über das alte Personal wahrgenommen. Auch Christian Lindner ist lange mehr durch Ambition als durch menschliche Substanz erlebbar geworden. Aber er hat gewonnen. Und er lernte, auch zu gönnen. Die FDP hätte diesen Aufschwung nicht geschafft, wenn da nicht andere Personen Raum bekommen hätten. Damit wurde deutlich, es gibt eine geistige Strömung, die dieses Land braucht. Und die ist durchaus vielfältig und interessant. Die CDU dagegen hat diesen Schritt in eine neue Kultur der Zusammenarbeit nicht hinbekommen. Sie wollte wieder einen starken Führer aufbauen – aber dem Kandidaten nahm man das nicht ab. SPD und Grüne waren da besser aufgestellt.
In den Sondierungsgesprächen zeigte sich respektvoller gegenseitiger Ton. Zur Dreigliederung gehört ebenfalls, dass die Glieder sich bedingen und fördern. Siehst du dieses Klima?
Genau. Das ist es ja, was mich so hoffnungsvoll stimmt. Jetzt werden in Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte die Koalitionsverhandlungen nicht aus einem Zentrum geführt. Sie beginnen vielmehr peripher. FDP und Grüne haben angefangen, sich auszutauschen, miteinander zu sprechen, bevor sie mit dem neuen "starken Mann" ins Gespräch gehen. Natürlich liegen da auch spezifische Verwundungen auf beiden Seiten vor. Und die Öffentlichkeit brauchte ein Zeichen, dass die FDP tatsächlich mitgestalten will und die Gespräche auch ernst nimmt. Aber es geht um mehr. Wie können wir Freiheit mit sozialer Verantwortung verbinden? Das steht im Hintergrund – und das ist heute die entscheidende Frage. Sie treibt mich auch persönlich um – und führt zu kritischen Fragen an meine ehemaligen Freunde bei den Grünen. Die haben den Blick auf das Ganze stärker als andere, aber gelegentlich wird mit dem Blick auf das planetar Erforderliche der notwendige und verfügbare Raum individueller Freiheit und Gestaltung unnötig verengt.
Es muss vermutlich jeder selbst in Freiheit seinen oder ihren persönlichen Verzicht finden. Das kann nur frei geschehen.
Das ist die große gesellschaftliche Frage in dieser Pandemie. Die Tendenz der Regierenden ist, vorzugeben, wie der Einzelne sich verhalten muss. Das geht bis hin zu höchst persönlichen Fragen, wo es manchmal nicht einsehbar ist. Das heißt aber nicht, dass wir nicht im Großen die Weichen ganz anders stellen müssen. Im Gegenteil: Wenn und wo wir das tun, können wir darauf verzichten, in Kleinigkeiten zu gängeln.
Gesellschaftlich wird diese Freiheit gerade zerrieben. Die einen sagen: «Follow the science!» – die anderen: «Ich tue, was ich will!» Schaffen wir es, Freiheit und Verantwortung, diese Pole, zu verbinden? Nehmen wir die Pandemie: Kann der Einzelne in Freiheit die Sorge des anderen und um das Ganze respektieren, ohne dass solche massiven Einschränkungen beschlossen werden? Das ist die Frage in der Pandemie – und das wird die ökologische Frage werden. Wenn nicht der Einzelne eine Änderung will und in Freiheit in seinem Leben gestaltet, droht uns Diktatur. Deshalb kann und muss man das Ökologiethema mit dem Freiheitsthema verbinden. Das ist die eigentliche alchemistische Aufgabe unserer Zeit. "Freie Fahrt für freie Bürger" oder die Freiheit, 50 Millionen Euro zu verdienen, während neben meinem Haus Menschen betteln oder an Hunger sterben? Freiheit auf Kosten des Ganzen ist vorbei. Verlangt das Ganze nun, dass wir die Freiheit aufgeben? Oder ist Gestaltung des Ganzen in Freiheit möglich, so, dass Freiheit nicht mehr primär Freiheit vor dem anderen, sondern für den anderen ist: einander und die Erde zu schätzen, zu achten und achtsam Schritte in die Zukunft zu gehen?
Würdest du Harald Welzer zustimmen, der meinte, dass Jeff Bezos ins Weltall fliegt und dabei Schadstoffe verfeuert wie eine Großstadt, müsse verboten werden?
In der Logik des eben Gesagten läge, dass so etwas sowieso niemand mehr macht, ohne dass es verboten werden muss. Aber ich stimme dir zu. Der Raum auf der Erde wird enger und ist verteilt. Deswegen gehen die, die große Bedürfnisse haben, neue Ideen oder sich selbst zu verwirklichen, in den Weltraum. Der ist noch nicht verteilt. Ich glaube, wir müssen begreifen, dass es keinen solchen Raum gibt, in dem man sagen kann: "Hier muss ich keine Rücksicht nehmen und bin befreit von den anderen." Es ist alles unser gemeinsamer Lebensraum, in dem wir Verantwortung teilen. Und alles hat Konsequenzen. Wir brauchen daher schnell und dringend Regeln für diesen "Weltenraum". Wem gehört die Erde? Wem das All? Ich halte auch den Wunsch privater Unternehmen, Tausende von Satelliten in Umlaufbahnen zu schießen, für höchst problematisch. Die neuen Formen von Regeln und Verantwortung hierfür gilt es schnell zu finden. Es geht nicht mehr um Gruppenzugehörigkeit, sondern um Sachentscheidungen.
Wie kommen die drei Parteien fruchtbar zusammen?
Nach meiner Erfahrung ist die Kraft der Persönlichkeit und die Reife der einzelnen Politikerinnen und Politiker entscheidend. Bei Olaf Scholz zum Beispiel gibt es diese interessante Mischung aus Amtsbonus und Opposition – er gehört zum System und vermag doch glaubwürdig einen neuen Anfang zu vertreten. Wir hatten viel Lethargie in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Wenn ich daran denke, wie in Deutschland bei den Gerichten oder Behörden Fälle bearbeitet werden: Da werden oft noch die Papierakten in Ordner geheftet und mit Metallwägelchen über die Gänge geschoben. Die müssen dann über den Schreibtisch jedes Richters, jeder Richterin laufen, abgezeichnet und kommentiert werden, bis sie in Druck gehen und als Urteil vorgelegt werden können. Deshalb ist unsere Justiz so langsam. Es wäre kein Problem, das digital zu machen – und so, was in Monaten stattfindet, auf Tage zusammenzuschieben. Deutschland hat so viel verschlafen, weil es in seinem ganzen Reichtum und Stolz auf ein funktionierendes System eingeschlafen und alt geworden ist. Es ging schon seit Jahrzehnten nicht mehr um neue Ideen, sondern nur noch um das ewige "weiter so".
Das galt für Kohl – und das galt leider großenteils auch unter Merkel, deren Ausgeglichenheit und Besonnenheit dem Land guttat, deren absolute Visionsarmut es aber zugleich lähmte. Das muss jetzt anders werden. Das spiegelt sich auch in den Kandidaten. Olaf Scholz strahlte die nötige Ruhe und Besonnenheit aus, ist aber dennoch offen für neue Gedanken, das ist wichtig. Und er steht für die Mitte, die Gerechtigkeit, die Gleichheit. Laschet und Baerbock hätten die Chance gehabt, zu gewinnen, doch Baerbock wollte mehr sein und Laschet wollte anders sein, als er bzw. sie war. Und was sie waren, genügte nicht für Platz eins. Sie konnten nicht die notwendige Wärme und Weite eines seelischen Mantels ausstrahlen, den ein Land braucht, wenn es sich auf solch eine Reise in den geistigen und seelischen Umbau begeben will. Robert Habeck, der das eher gekonnt hätte und übrigens auch der Architekt des neuen Stils ist, den wir nun zwischen den Protagonisten erleben, stand nicht zur Wahl. Im unbarmherzigen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit werden Stärken und Schwächen öffentlich sichtbar.
Zum Abgesang der SPD hieß es, "ihre Kulturleistung sei, das Proletariat in das bürgerliche Leben integriert zu haben". Aber was kommt jetzt danach?
Das Proletariat in dieser klassischen Form gibt es ja tatsächlich nicht mehr. Aber es gibt ein neues Präkariat und damit eine neue Gerechtigkeitsfrage. Das zeigte sich am Wahltag wie unter einem Brennglas beim Ergebnis des Volksentscheids in Berlin für die Enteignung von Wohnungskonzernen. Das deutliche Abstimmungsergebnis führte zu einem Aufschrei der Etablierten und brachte ein erfreulich disruptives Element hinein. Worum ging es da? Berlin hat – übrigens von "Mehr Demokratie" erkämpft – die Möglichkeit, neben der repräsentativen auch die direkte Demokratie zu nutzen. Im Widerspruch zu den meisten Wahlprogrammen hat die Mehrheit der Bevölkerung für die Enteignung aller Wohnungseigentümer, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen, gestimmt. Da geht mein Herz mit. Denn die Menschen empfinden: Wohnen ist lebensnotwendig. Wenn das nur noch nach kalten Marktgesetzen geregelt wird, führt das angesichts von Bodenspekulation und steigenden Mieten zu enormen sozialen Problemen. Was die Bürgerinnen und Bürger da entschieden haben, ist wirklich konträr zur bisherigen politischen DNA dieses Landes.
Es geht nicht mehr um Gruppenzugehörigkeit, sondern um Sachentscheidungen.
Das gehört für mich zum Bild in Bezug auf das Wahlergebnis: die noch unbewusste, gefühlte Dreigliederung – und dann das michaelische Schwert. Bundestagswahl und Berliner Abstimmung. Sie rufen ins Land: «Wir wollen, dass sich radikal etwas ändert! Bleibt nicht in euren alten geistigen Käfigen sitzen, sondern macht Türen und Fenster auf für neue Ideen! Sonst können wir diese Welt und diese Gesellschaft nicht retten, sonst fällt sie auseinander.»
Ist das die Abendröte des Parteiendenkens, das ja aus dem 19. Jahrhundert stammt?
Früher gab es drei, vier große Parteien und man gehörte zur Wählerschaft der einen oder anderen. Das hat sich unglaublich ausdifferenziert. Die Menschen entscheiden bei jeder Wahl neu, «Wechselwähler» und spät Entschiedene nehmen zu. Neue Parteien kommen. Acht Prozent der Wähler und Wählerinnen haben Parteien gewählt, die in der bisherigen Politik nicht vorkamen, die aber an der 5-Prozent-Hürde scheiterten. Ich vermute, es wären 16 Prozent gewesen ohne diese Hürde, weil ja niemand seine Stimme vergeuden will. Es gibt dafür ein einfaches Lösungsmittel, das ich seit Jahrzehnten vorschlage: die Ersatzstimme. Also: Ich wähle A. Sollte A nicht ins Parlament kommen, geht meine Stimme an B. So ist sie nicht wertlos. In einer Demokratie sollte jede Stimme gleich viel zählen. Also: Die Bürger und Bürgerinnen wollen und haben mehr Wahl. Es geht nicht mehr um Gruppenzugehörigkeit, sondern um Sachentscheidungen. Käme jetzt noch die direkte Demokratie dazu, könnten auch die Parteien perspektivisch überwunden werden. Nicht aber die Notwendigkeit konsistenter Politikentwürfe und -debatten. Aber nehmen wir das Klima, die Pandemiepolitik, die Besteuerung: Wenn man mehr unmittelbare Beteiligung ermöglichen würde, kämen völlig neue Ideen auf den Markt und zum Zug als nur jene, die im Parlament noch bewegt werden.
Hat die Wahl in Deutschland eine außenpolitische Wirkung?
Ja, das hat sie! In allen Erdteilen schauen viele Länder und Menschen auf Deutschland und Mitteleuropa. Gerade jetzt, wo wir fast weltweit Zeugen von Antagonismus und Populismus sind, wo wir einen Rückbau der Demokratie erleben, wo kaum noch um Inhalte gerungen wird, sondern der andere schon als Feind gilt, nur weil er anders denkt. Da ist es sehr beruhigend, dass die Demokratie in Deutschland funktioniert und sich sogar weiterentwickelt. Themen, die das politische Establishment lange ausgeklammert hat, werden von Bürgern und Bürgerinnen auf die Tagesordnung gesetzt. Es gibt immer mehr Bürgerbeteiligung. Der von mir vor Jahrzehnten gegründete Verein Mehr Demokratie hat wesentlich dazu beigetragen. Ich erlebe in vielen, vielen Ländern, wie das als Vorbild gesehen wird und auch andere ermutigt. International wünsche ich mir, dass die Politik der Konfrontation und des wiedererwachenden Blockdenkens überwunden wird. Das gilt auch für Europa. Es geht nicht darum, gegenüber Amerika, China oder Russland einen großen Block zu bilden. Es geht darum, eine menschliche und nachhaltige Politik zu betreiben, die für die ganze Erde wirksam wird, von Europa aus – und die Blockdenken nach innen wie nach außen auflöst. Wenn Deutschland sich dessen besönne, könnte es tatsächlich einen Beitrag zu einer guten Entwicklung in den nächsten Jahren leisten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 42 der Wochenschrift für Anthroposophie "Das Goetheanum"
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und Gerald Häfner
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