Vor 100 Jahren erschien der erste Sammelband über den anthroposophischen Kulturimpuls. Wolfgang G. Voegele hat sich wieder einmal auf Spurensuche nach damaligen Zeitgenossen begeben.
Wolfgang G. Voegele –
Zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erschien im Berliner Wissenschaftsverlag ein Sammelband, an dem zahlreiche Autoren aus verschiedenen Fachgebieten mitwirkten. Damit lag ein aktueller Überblick über den anthroposophischen Kulturimpuls vor, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügte. [1] Dass schon zu Lebzeiten Steiners ein ähnliches Unternehmen in etwas kleinerem Format und ohne wissenschaftlichen Anspruch durchgeführt wurde, ist heute vergessen und soll im folgenden besprochen werden.
Im Februar 1921 wurde Rudolf Steiner 60 Jahre alt. Anlässlich dieses Geburtstages wurde die heute noch bestehende Kulturzeitschrift "die Drei" gegründet. Aus dem gleichen Anlass gab der bekannte protestantische Theologe Friedrich Rittelmeyer (1872-1938), der sich schon in früheren Jahren öffentlich für Steiner eingesetzt hatte, eine Festschrift heraus mit dem Titel "Vom Lebenswerk Rudolf Steiners. Eine Hoffnung neuer Kultur". [2]
Als Mitarbeiter an seinem Projekt gewann er Autoren aus verschiedenen Fachgebieten, darunter nicht nur Anthroposophen. Großen Anteil am Zustandekommen des Buches hatte sein Freund Michael Bauer, der erfahrene Pädagoge und spätere erste Biograph Christian Morgensterns.
Rasch war die erste Auflage von 4000 Exemplaren vergriffen, sogleich folgte die zweite. Begünstigt wurde der Erfolg auch dadurch, dass das Buch in einem angesehenen nichtanthroposophischen Verlag herauskam und dass der Herausgeber in der deutschen Öffentlichkeit als Theologe und Prediger weithin bekannt und geschätzt war. Gerhard Wehr schreibt: "Um 1920 gibt es keinen zweiten Anthroposophen, der [seiner Wertschätzung Steiners] mit dem gleichen persönlichen Gewicht vor der Welt Ausdruck zu geben vermöchte als der protestantische Theologe Friedrich Rittelmeyer" [3]
Nach seiner Begegnung mit Rudolf Steiner (1911) gewann Rittelmeyer immer mehr die Überzeugung, er könne die aus der Anthroposophie empfangenen Anregungen innerhalb der Kirche fruchtbar machen. Einen ähnlichen Weg hatten andernorts bereits einzelne protestantische Pfarer wie Paul Klein oder Hermann Heisler beschritten.
Rittelmeyers Intentionen
Im Vorwort legte der Herausgeber seine Intentionen dar: angesichts der überwiegend verächtlichen oder Ignoranten öffentlichen Reaktionen auf Steiners Aktivitäten solle "eine Atmosphäre des Ernstgenommenwerdens" für dessen Werk geschaffen werden. Der Versuch, ein so umfassendes Werk darzustellen, könne zum ersten Mal nicht gelingen, müsse aber doch einmal gewagt werden. Dass im Buchtitel und in den Kapitelüberschriften der Mann und nicht das Werk genannt wird, rechtfertigt Rittelmeyer damit, dass Steiner mehr als sein Werk den erbittertsten Angriffen ausgesetzt sei.
In der Tat begab sich Rittelmeyer mit dieser Publikation auf vermintes Gelände. Im Jahr 1921 erreichte die Flut von Pamphleten gegen Steiner ihren bisherigen Höhepunkt. Der Kampf gegen Steiner wurde damals von politisch rechten und katholischen Kreisen zur nationalen Pflicht erklärt. 1922 ging die Hetze in physische Gewalt über: Steiner kam bei seinen Vortragsreisen mehrmals in Lebensgefahr. [4]
Rittelmeyer wünschte Steiner zu zeigen, dass seine Lebensarbeit nicht vergeblich gewesen war. "Aber nicht um eine Steinermode heraufzuführen, haben wir geschrieben, sondern um die Besten, Freisten, Ernstesten auf allen Gebieten zur Prüfung herauszufordern."
Mitarbeiter/Autoren
Die Namen der meisten Mitarbeiter sind außerhalb der anthroposophischen Bewegung vergessen; einzelne wie etwa der Orientalist Hermann Beckh haben es aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistungen immerhin zu einem eigenen Eintrag in Wikipedia geschafft.
Die einzelnen Aufsätze im Überblick
Persönlichkeit und Werk Rudolf Steiners (Friedrich Rittelmeyer),
Rudolf Steiner und die Philosophie (Richard Eriksen)
Rudolf Steiner und die Religion (Christian Geyer)
Rudolf Steiner und die Naturwissenschaft (Hans Wohlbold)
Rudolf Steiner und die Kunst (Ernst Uehli)
Rudolf Steiner und die Pädagogik (Michael Bauer)
Rudolf Steiner und die Politik (Roman Boos)
Rudolf Steiner und Goethe (Erich Schwebsch)
Rudolf Steiner und das Morgenland (Hermann Beckh)
Rudolf Steiner und das Deutschtum (Friedrich Rittelmeyer)
Überblick über das literarische Werk Rudolf Steiners (Richard Dedo).
Rittelmeyer fand es angemessen, dass auch "Ausländer" Beiträge schickten: Eriksen war Hochschuldozent in Norwegen, der Schriftsteller Uehli (Mitbegründer der "Drei", war 1924-1937 Waldorflehrer für Geschichte und Kunstgeschichte) und der Jurist Boos waren Schweizer. Der Theologe Geyer war viele Jahre Rittelmeyers Kollege und Freund in Nürnberg, ehe dieser 1916 nach Berlin berufen wurde. Beckh war bis 1920 Orientalist an der Berliner Universität und führender deutscher Indologe. Wohlbold war Biologe und Anthropologe, Gymnasiallehrer und Schriftsteller. Er arbeitete in Weimar an Goethes Nachlass und gab dessen Farbenlehre heraus.Schwebsch war Musikwissenschaftler (Standardwerk über Bruckner), später Waldorflehrer. Dedo amtierte als Stadtbibliothekar in Breslau.
Rittelmeyers einleitender Aufsatz ist von hoher Authentizität, weil er auf zahlreiche Gespräche mit Steiner zurückgreift; sein zweiter (den ursprünglich der bekannte Publizist Friedrich Lienhard schreiben sollte) behandelt ein damals kulturpolitisch aktuelles Thema, das gerade im Zusammenhang mit Steiner hohe Wellen schlug: während die Anthroposophen – in strikter Abgrenzung zur anglo-indischen Theosophie – seine Anknüpfung an die deutsche Kultur betonten, wurde er von rechten Kreisen als "Verräter am Deutschtum" diffamiert. [5]
Stuttgarter "Konkurrenten"
Rittelmeyer startete sein Unternehmen vermutlich schon im Januar 1920 mit einem undatierten Rundbrief an potentielle Mitarbeiter, in dem er auch die verschiedenen Gebiete aufzählte, über die er sich Beiträge erhoffte: Philosophie, Naturwissenschaft, Religion, Kunst, Politik, Pädagogik, Morgenland, Deutschtum, Goethe. Als Leser dachte er sich nicht in erster Linie Anthroposophen, sondern "lebendig interessierte Studenten, suchende Volksschullehrer, geistig höher strebenden Proletarier." Die einzelnen Aufsätze sollten – was dann tatsächlich geschah – auch als Separatdrucke erscheinen.
Am 5. Februar 1920 teilt er seinen Plan Marie Steiner mit. Er überlässt es ihr, Steiner davon in Kenntnis zu setzen. Gleichzeitig bittet er sie um Nennung der geeignetsten Mitarbeiter. Er wünscht "möglichst bekannte Namen", hofft daher auch auf die Mitwirkung Friedrich Lienhards, damals als Herausgeber der Kulturzeitschrift "Der Türmer" einer der bekanntesten Publizisten Deutschlands. Lienhard stand eine Zeitlang der anthroposophischen Bewegung nahe, zog sich aber zurück, da er deren Expansion in wirtschaftliche und politische Bereiche nicht mehr mitvollziehen konnte. [6]
Marie Steiner antwortet nicht, setzt aber verschiedene Anthroposophen von Rittelmeyers Vorhaben in Kenntnis und fordert sie auf, mit diesem in Kontakt zu treten. Rittelmeyer verschickt ein weiteres Rundschreiben, in dem erstmals der Plan auftaucht, Christian Morgensterns Beziehung zu Steiner zu dokumentieren. Morgensterns Witwe sagt zu, fühlt sich aber dann vermutlich doch überfordert, in kurzer Zeit etwas zusammenzustellen.
Eine erste, auf den 26.3. datierte Antwort erreicht Rittelmeyer aus Dornach. Eine Gruppe von Unterzeichnern, darunter die Waldorflehrer Stein, Kolisko und Stockmeyer, betont die aktuelle Wichtigkeit des wissenschaftlichen Eintretens für Steiner, mit Hinweis auf die neuesten Hochschulkurse in Stuttgart und Dornach. Die Gruppe bietet sich zur Mitarbeit an, schlägt aber vor, das Buch "Anthroposophie und Fachwissenschaften" zu nennen und einen Ausschuss mit Sitz in Stuttgart zu bilden, der die weitere Planung in die Hand nehmen solle. Diesem Ausschuss sollen neben Rittelmeyer die genannten Waldorflehrer angehören.
Am 30.3. antwortet Rittelmeyer, er könne – wegen Krankheit – in absehbarer Zeit nicht nach Stuttgart kommen. Auch ein Komitee lehne er ab, da man zuerst an die denken solle, mit denen er zuerst vertraulich seinen Plan entwickelt habe (z.B. Beckh, Schwebsch). Da Berlin als "Anthroposophie-Zentrale ohnehin abgesetzt" sei, wäre es für die Berliner erfreulich, wenn auch einmal von Berlin aus etwas für Steiner getan würde. Er bittet um weitere Themenvorschläge und legt eine wesentlich erweiterte Mitarbeiterliste bei.
Doch die Waldorflehrer lehnen in einem Schreiben vom 22.4. die Pläne Rittelmeyers ab. Nur Stuttgart und der dortige Verlag "Der Kommende Tag" komme in Frage, der Buchtitel "Vom Lebenswerk" sei unangebracht, da ein solches noch gar nicht vorliege. Die Aufsätze müssten "wirkliche wissenschaftliche Leistungen" sein, nötig sei weniger das Wort für Steiner als die Arbeit im Sinne Steiners. Die Auswahl der Autoren sollte nie nach deren öffentlicher Reputation geschehen, sondern nur nach deren "Leistung".
Es gebe sehr viel mehr geeignete Mitarbeiter, als Rittelmeyer meine. In Stuttgart lerne man diese Kräfte kennen. "Ganz ausgeschlossen erscheint uns die Beteiligung von Lienhard. Die Art von Deutschtum, die er vertritt, kann nicht unsere Sache sein."
Am 26.4. antwortet Rittelmeyer: "Ihr heutiger Brief hat leider nur Ablehnung meiner Vorschläge, keinerlei Verbesserungsvorschläge und keine Erfüllung meiner Bitte um Beantwortung meiner Fragen gebracht." Er weist die Kritikpunkte der Stuttgarter zurück. Am 28.4. teilt er seine Enttäuschung Marie Steiner mit: Er sei praktisch ausgeschaltet worden. Es solle anscheinend wieder eine esoterische Sache der Anthroposophischen Gesellschaft daraus gemacht werden, die in der Öffentlichkeit nicht wirke. Es müsse jetzt aber nicht verhandelt, sondern gehandelt werden."So habe ich mich nun entschlossen, die Sache selbst zu machen." Er bittet, den Herren Lienhard und Blume entsprechende Vorträge Steiners zukommen zu lassen, damit sich diese gründlicher über Steiners Gedanken zu den geistigen Aufgaben Mitteleuropas und zu gesellschaftlichen Fragen informieren können. [7]
Auch diesmal antwortet die Briefempfängerin nicht. Vermutlich spielt hier schon das komplizierte Verhältnis zwischen Marie Steiner und dem "religiösen Flügel" der anthroposophischen Bewegung eine Rolle, das sich nach der Begründung der Christengemeinschaft 1922 noch verstärkte. [8]
Rittelmeyer erinnerte sich zehn Jahre später: "Es war im Jahre 1921, als ich das Buch 'Vom Lebenswerk Rudolf Steiners' herausgab. Damals habe ich mit den meisten Krach gehabt […] Schließlich sagte ich: Nie in meinem Leben arbeite ich wieder mit solchen Anthroposophen zusammen! – Es ist ganz anders gekommen." [9] Rittelmeyer wurde 1923 von Steiner in den Vorstand der deutschen Landesgesellschaft berufen, wo er bis 1933 amtierte.
Zu diesem Konflikt liegen verschiedene Urteile vor
Professor Römer erwähnt einmal auf einer Postkarte an Rittelmeyer den "intellektualistischen Hang" der Stuttgarter. Dieser Hang scheint sich zu bestätigen, wenn man auf den Vorschlag der Stuttgart/Dornacher Anthroposophen blickt, die Festschrift genau so zu nennen wie den Dornacher Kurs "Anthroposophie und Fachwissenschaften". Christoph Rau dazu: "Und man kann wohl Rittelmeyer verstehen, dass er mit solcher Engstirnigkeit nicht zusammenarbeiten möchte, da er sie der Weltbedeutung Steiners nicht für angemessen hielt." [10]
Walter Johannes Stein erklärt seinen Konflikt mit Rittelmeyer auch mit Temperaments- unterschieden: "Stein sagte, das der ungelöste Punkt ihrer beiden Beziehungen die verschiedene Art den Gegnern gegenüber sei." Für Rittelmeyer sei es natürlich, rücksichtsvoll anzugreifen, für ihn (Stein) aber scharf. Stein müsste heucheln, wenn er wie Rittelmeyer vorgehen wollte." [11]
Dass Rudolf Steiner angesichts sich bekämpfender Gruppen von Anthroposophen auf tiefe "karmische Hintergründe" hinwies, sei hier nur angedeutet. [12]
"Das Stärkste"
Rudolf Steiner, der auf das Feiern seines eigenen Geburtstages nie Wert legte und auch selten eine freie Minute hatte, befand sich, als die Festschrift in Dornach eintraf, auf Vortragsreise in Holland. Es folgten ein Stuttgarter und ein Dornacher Hochschulkurs, außerdem ein 2. Ärztekurs (11.-18.April).
Erst danach fand er Zeit, Rittelmeyer brieflich zu danken: "[…] Im Namen der anthroposophischen Bewegung sage ich Ihnen herzlichsten Dank für Ihr Buch. Dasselbe ist ganz zweifellos so gehalten, daß der Kreis, in dem es wirken kann, gut berücksichtigt ist. Und würde das, was sachlich darinnen steht, ohne Beziehung zu meiner Person vor die Welt treten, so müßte unmeßbar viel Gutes daraus entspringen. Allein es ist nun schon einmal
s c h i c k s a l s g e m ä ß, daß mir für die Empfindungen meiner Gegner die Götter es auferlegen, bei allem, was durch Anthroposophie geschieht, persönlich noch dabei sein zu müssen.Und ich darf nicht anders handeln, als es geschieht. In unserer Zeit ist es so, daß das Rechte eben grimmige Feindschaft hervorruft. Ihr Aufsatz über meine während des Krieges abgegebenen Urteile war gewiß so berechtigt wie nur möglich. Aber e r wirkt nach in vielem, was jetzt die Gegner Unternehmen.Nur können sie
d a s nicht sagen und müssen, oftmals sich selbst, aber zumeist den Anderen etwas Anderes sagen. So auch wird es mit vielem stehen, was aus Ihrem Buch spricht. Es wird in weitesten Kreisen ärgern. S i e dürfen sich dadurch nicht entmutigen lassen. […]
Sie, mein lieber verehrter Herr Doktor, haben in einer auch für Sie persönlich schweren Zeit Ihr Buch in die Welt geschickt, das so ist, daß die Krankheit dem Buche gegenüber wie die Bringerin der Muße ist, die Ihnen gestattete, das besser zu machen, was Sie auch in guter, aber von Arbeit überbürdeter Zeit mut- und kraftvoll getan hätten." [13]
Rittelmeyer resümiert: "Die Mitarbeiter an dem Buch könnte es freuen, daß drei Jahre später Rudolf Steiner in einer Sitzung sagte, das Buch sei 'das Stärkste, was bisher zum Bekanntwerden der Anthroposophie in der Öffentlichkeit geschehen ist'." [14]
Publizistisches Echo
Von Rezensionen können nur wenige erwähnt werden: Lienhard bringt eine knappe Besprechung im "Türmer" ("ein gehaltsschweres Sammelwerk", ein "Huldigungsbuch", an dem fortan weder Feind noch Freund vorübergehen können. Geyers Aufsatz scheint ihm "bedeutsam". Für die Autoren sei Steiner "ein Erlebnis" gewesen. "So kommt jeder dieser Mitarbeiter dazu, von einem besonderen Ende her Steiner als eine 'epochale' oder 'phänomenale' Erscheinung zu verehren, wobei natürlich andre Zeitgenossen oder Meister der Vergangenheit leicht ein wenig neben dem Helden des Festtage verblassen." – In der "Christlichen Welt" vom 16.6.21 schreibt der Berliner Kollege Rittelmeyers, der Theologe und Pazifist Dr. Walther Nithak-Stahn, eine mehrseitige wohlwollende Rezension. Er nennt es ein mutiges Buch, denn "der Name Steiner genügt heute, um denen, die sich öffentlich zu ihm bekennen, in weiten Kreisen den wissenschaftlichen Charakter, wenn nicht die volle geistige Normalität abzusprechen." "Es ist kaum übertrieben, daß Rudolf Steiner gegenwärtig in Deutschland die stärkste Persönlichkeitsmacht darstellt […] Seit 40 Jahren lebt und schafft er so Ungeheures, und wir kennen ihn nicht." Das Buch strahle in vielfachen Lichtbrechungen einen Geist aus, "dessen überreiche Lebensleistung auch dem Nichtüberzeugten den imponierenden Eindruck einer kaum faßlichen Spannweite hinterläßt."
An die Festschrift anknüpfend, erörtert Dr.Hans Hartmann (Neue Westdeutsche Lehrerzeitung vom 5.11.21) Grundsätzliches zu Rudolf Steiners Anthroposophie. Dieses Buch sei klarer und angenehmer zu lesen als die Steinerschriften selbst "Es ist wie ein Prisma, das Steinersches Licht in allen Farben wiederspiegelt." Er empfiehlt die Lektüre denen, die noch nicht glauben, dass Steiner auf fast allen Gebieten Originelles geleistet habe.
Dass die Festschrift, wie Steiner voraussah, viele ärgern würde, zeigt das Verdikt des Philosophen und Gnosisforschers Hans Leisegang, eines bekannten Steinerkritikers, der 1922 in einem Referat sagte, das Buch sei "das verlogenste Machwerk der Weltliteratur".[15]
Die Festschrift aus heutiger Sicht
Eine Neuauflage verbietet sich schon deshalb, weil Rittelmeyer brisante Themen (Deutschtum, Einkreisung Deutschlands vor dem Weltkrieg, Juden als Reprâsentanten des Intellektualismus und des Materialismus) anschlägt. Da Rittelmeyer heute in der steinerkritischen Forschung, z.B.bei dem Historiker Staudenmaier, als Repräsentant einer deutschnationalen anthroposophischen Literatur gilt, wird er selbst in der Christengemeinschaft nur noch selten zitiert.
Zudem ist die oft pathetische Sprache Rittelmeyers – wie auch sein Biograph Gerhard Wehr einräumt – heute kaum noch genießbar. Wie und was er über das "Deutschtum" schrieb, versucht Rudolf Gädecke damit zu rechtfertigen, dass Rittelmeyers Lebensthema das Verhältnis des Menschen-Ich zum Gottes-Ich gewesen sei und er Christwerden als die Aufgabe des Deutschen bezeichnete. [15]
Manche Artikel, etwa der von Michael Bauer über Pädagogik, bleiben dennoch lesenswert. [16]
Rittelmeyer verfasste seine Beiträge zur Festschrift diktierend während einer Rekonvaleszenz nach einem im Gebirge erlittenen Unfall. Daran knüpften sich allerlei Gerüchte. Ein früherer Amtskollege hegte den Verdacht, Rittelmeyer sei durch Steiners Einfluss geisteskrank geworden. Das Thema "Gesundheitsschädigung durch Anthroposophie", schon im Ersten Weltkrieg ein beliebtes Thema der Steinerkritik, wurde seit Rittelmeyers rätselhafter "Konversion" zur Anthroposophie erneut zum Gegenstand der Polemik. [17]
Viele Praxisfelder der Anthroposophie konnte die Festschrift noch nicht berücksichtigen, da diese erst in ihren Anfängen steckten bzw.noch gar nicht inauguriert waren: Medizin, Landwirtschaft, Heilpädagogik usw. Ein Kritiker bedauerte das Fehlen eines Kapitels über Musik. Aber auch in ihrer lückenhaften Form stellte Rittelmeyers Unternehmung eine Pioniertat dar. Das Buch gehört zu den Meilensteinen der Wirkungsgeschichte der Anthroposophie zu Lebzeiten Steiners. Es dürfte für Steiner persönlich, der selbst unter den Unzulänglichkeiten seiner Anhänger litt und zugleich permanenten öffentlichen Angriffen ausgesetzt war, einer der seltenen Lichtblicke gewesen sein, ein Hoffnungsschimmer auf dem mühsamen Weg zu der von ihm intendierten "neuen Kultur".
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Foto-Montage redaktion tdz
Fotos: Rittelmeyer (© Verlag Urachhaus/Verlagsarchiv) ⎹ Foto: Buchcover "Vom Lebenswerk Rudolf Steiners"
Anmerkungen
1 Rahel Uhlenhoff (Hrsg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2011]
2 München, Chr.Kaiser Verlag 1921, 354 Seiten. Die Entstehung der Festschrift ließ sich im Wesentlichen rekonstruieren anhand des dokumentarischen Materials, das mir der Biograph Michael Bauers, Christoph Rau, 2002 zur Verfügung stellte. Es ermöglicht einen tieferen Einblick in die damaligen Stuttgarter Verhältnisse, die von einer Spannung zwischen Anthroposophischen Gesellschaft und Christengemeinschaft geprägt waren. Diese besserte sich offenbar auch nicht durch Rittelmeyers Zuzug von Berlin 1923, sondern erst durch dessen Nachfolger Emil Bock nach dem 2.Weltkrieg. WGV
3 Gerhard Wehr: Friedrich Rittelmeyer.Sein Leben. Zit nach der 1.Auflage1985, S.63] Rittelmeyer hatte damals in Berlin eine große Personalgemeinde, zu der die Elite des Berliner Bildungsbürgertum zählte. Theologieprofessoren wie Harnack und Philosophen wie Troeltsch saßen unter seine Kanzel. Er verkehrte mit bekannten Künstlern und mit hohen Militärs. [Vgl.Claudia Beckers Dissertation über Rittelmeyer, FU Berlin. 2001
4 Vgl.die Dokumentationen zum Attentatsversuch auf Steiner, Archivmagazin Nr 8, Dornach, Dez. 2018 und zur Vernichtung des Goetheanum, in GA 259.
5 Vgl.Lorenzo Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz.Der võlkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie. Stuttgart 2004.
6 Vgl. Wolfgang G.Vögele: Friedrich Lienhard. In: Bodo v.Plato (Hrsg.): Anthroposophie im 20. Jahrhundert.Dornach 2003, S.458-459.
7Prof. Wilhelm von Blume lehrte als Jurist in Tübingen und war öffentlich für Steiners Sozialreform eingetreten. Er gilt als Schöpfer der 1919 in Kraft getreten neuen württembergischen Verfassung.
8 Vgl. Wolfgang Gädeke: Marie Steiner und die Christengemeinschaft. Eine tragische Beziehung. Stuttgart 2018
9 zit. nach Lili Kolisko: Eugen Kolisko.Ein Lebensbild. Gerabronn (Selbstverlag) 1961, S.259]
10 Brief von Chr.Rau an mich vom 6.9.2002, WGV
11 Brief von Michael Bauer. Bauer, Briefe 1997, S.160
12 Vgl.Fred Poeppig: Rückblick…Manuskriptdruck. Basel 1964, S. 89 ff.: Kapitel "Karmische Gruppierungen"
13 zit.nach Friedrich Rittelmeyer: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner. Stuttgart 1953, S. 98 f.
14 a.a.O., S.100
15 zit. nach GA 259, S. 797. Wie Leisegang über Steiner dachte, zeigt sein Satz: "Welche satanische Freude muß diese ‚Hellseher‘ daran haben, wenn er sieht, daß so viele Menschen auf seinen banalen Unsinn hereinfallen." Hans Leisegang: Die Grundlagen der Anthroposophie.Hamburg 1922, S. 68
16 Rudolf F.Gädecke: Die Gründer der Christengemeinschaft. Dornach 1992, S.62) Er ist wieder abgedruckt in: Christoph Rau (Hrsg.):Michael Bauer: Gesammelte Werke, Band 2, Stuttgart 1987,S. 88-120
17 Vgl. Karl Heyer: Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft. Neuauflage Basel 2008, S. 64 f.
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Eine bewundernswerte, sorgfältig editierte Zusammenstellung der Ereignisse, mit denen Rudolf Steiner 1921 zu ringen hatte.