Rudolf Steiner

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Prototyp des modernen Menschen

Die Biographin Miriam Gebhardt zeigt Zeitgebundenheit und Einfluss seines Denkens auf die heutige Kultur auf – Praxisteile enttäuschen

von Wolfgang G. Vögele
Mit ihrer Biographie „Rudolf Steiner – ein moderner Prophet“, vom Verlag als „erste umfassende Biographie“ angekündigt, hat die Münchner Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt einen eigenwilligen Beitrag zum Steiner-Gedenkjahr geleistet. Die Autorin wurde bekannt durch ihre Schrift „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ (2009), in der sie eine kritische Bilanz der Erziehung im vorigen Jahrhundert zog.
Ihre Steiner-Biographie weist Miriam Gebhardt als Journalistin aus, die ihr Handwerk beherrscht: Komplizierte Sachverhalte, etwa zur Geschichte des Spiritismus, werden verständlich und anschaulich dargestellt. Mit empathischem Gespür versucht sie, Steiners Innenleben nahe zu kommen, seinen Ängsten und Enttäuschungen, seinen Sehnsüchten und Idealen.

Alles in allem zeichnet sie so das Bild eines modernen Rudolf Steiner, der in seiner Wandelbarkeit wenig Talent zum dogmatischen Sektenoberhaupt hatte. Dass ihn seine Anhänger dennoch oft in die Rolle des Heiligen drängten, ist unbestritten. Steiners Unmut darüber ist ebenso gut dokumentiert wie seine Enttäuschung, von der Mehrzahl seiner Anhängern in seinen wesentlichen Absichten und Zielsetzungen nicht verstanden worden zu sein.
Im Titel der Biographie wird der publikumswirksame Begriff des modernen Propheten verwendet. Ist damit ein Vorherverkünder und Warner unserer Zeit gemeint? Ein Wissender, ein Visionär einer besseren Zukunft, dem es um die Rettung seiner Mitmenschen ging? Oder soll im Leser gar die Assoziation eines „falschen Propheten“ erzeugt werden, wie es nach dem ersten Weltkrieg etwa in Pamphleten eines Max Seiling („Die anthroposophische Bewegung und ihr Prophet“) oder Gerold v. Gleich („R. Steiner als Prophet einer bedenklichen Lehre“) praktiziert wurde?
Oder will die Autorin damit andeuten, dass Steiner in das Milieu der von der Kulturwissenschaft apostrophierten „barfüßigen Propheten“ (Ulrich Linse) gehört, womit die zahlreichen Heilsapostel und Sektenführer der 1920er Jahre gemeint sind? Dann wäre Steiner also einer jener charismatischen, populistischen Scharlatane und Volksverführer, die in Krisenzeiten mit der Dummheit der Menschen ihr einträgliches Geschäft machten? Manche Autoren verorten unterschiedslos R. Steiner und den jungen Adolf Hitler in dieser Szene. Aber Miriam Gebhardt entlastet Steiner: er habe nicht zu den Wegbereitern des NS-Regimes gehört, wie ihm dies Kritiker unterstellten. (S. 12)

Gebhardt verortet Steiner im Milieu der Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Er habe die Sehnsüchte seiner Zeit geschickt aufgegriffen und daraus ein Sinnfindungsprogramm für das Bürgertum gemacht. „Unter all den Visionären des frühen 20. Jahrhunderts ist sein Name populär wie nie. Sein Erfolg war keine Eintagsfliege.“
Gebhardt widerspricht der These vom überholten, historisch gewordenen Steiner. Zu Lebzeiten habe er nur relativ wenige Anhänger gehabt, aber „im Gegensatz zu fast allen anderen Reformern seiner Zeit hat er es nicht nur bis in die Gegenwart geschafft, er hat sogar einen stetig wachsenden Einfluss auf das gegenwärtige Leben und Denken.“ (S. 15) Eine These, die diametral jenen Darstellungen widerspricht, Steiner spiele in der gegenwärtigen Gesellschaft nur eine marginale, besser: überhaupt keine Rolle, da er von keiner der etablierten Instanzen Kirche und Wissenschaft ernst genommen werde.
Gleichwohl, so wäre zu ergänzen, wird sein Denken von eben diesen Instanzen als nicht ungefährlich eingeschätzt. Besonders die Kirchen, denen die Deutungshoheit über Spiritualität zunehmend aus den Händen gleitet, glauben vor dem gesellschaftlichen Einfluss der Anthroposophen warnen zu müssen. Der Widerspruch zwischen Marginalisierung und Dämonisierung wird zwar von fast allen Steinerkritikern bemerkt, doch eine plausible Erklärung für den „anthroposophischen Einfluss“ auf unsere Gesellschaft hat noch keiner geliefert, wenn man einmal von kruden Verschwörungstheorien absieht. Für Gebhardt liegt der Erfolg Steiners nicht in seiner Lehre, sondern in der „Aktualität seiner Angebote“. Sie zählt eine Reihe von Beispielen auf, etwa die „Demeter-Organisation“ als weltweiten global player, die Benutzung von Weleda-Kosmetik durch Hollywoodstars, den wachsenden Zuspruch der Waldorfpädagogik. Kurz: die angewandte Anthroposophie blühe immer mehr auf. (S. 15)
Anthroposophie sei nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern auch als „Kulturfaktor“ sichtbar: Sie verweist auf die erfolgreichen Steinerausstellungen an großen deutschen Museen seit 2010 und auf 70.000 Waldorfschüler.

So würdigt das Buch von Miriam Gebhardt, nach Prof. Heiner Ullrich und Helmut Zander nun die dritte Biographie, die zum Jubiläumsjahr erscheint, Rudolf Steiner vor allem als Vordenker der Moderne, dessen Einfluss auf die Gegenwartskultur nicht hinwegdiskutiert werden kann. Hier setzt sie deutlich andere Schwerpunkte als die beiden anderen Biographen. (NNA berichtete, siehe „Anthroposophie als Black Box“ und „Rudolf Steiners Leben als Doku-Soap“)

In den „Dunstkreis“ der Anthroposophie gehörten in Deutschland Vertreter der Wirtschaftselite, der Polit- und Kulturprominenz: „Manche von ihnen waren Waldorfschüler, manche haben ihre Kinder nach der Steiner-Pädagogik lernen lassen.“ (S. 16) Hellhörig mache beispielsweise der Name Andreas Schleicher, Erfinder der PISA-Studie, selbst Ex-Waldorfschüler, der heute den öffentlichen Schulen Versagen vorwerfe. Verschwörungstheorien erteilt die Autorin eine Absage : die „Eliteproduktion“ von Waldorfschulen sei gering. Sie verweist zwar auf Hochschulen und Banken, die von Anthroposophen gegründet worden seien. Dennoch stecke dahinter kein „machthungriges Konglomerat“, denn: „Rudolf Steiners Anthroposophie wirkt vielleicht total, weil sie auf so viele Lebensbereiche zugreift, aber sie ist nicht totalitär.“ (S. 17) Die Lehre Steiners wende sich letztlich an eine akademisch gebildete, bürgerliche Schicht, die nicht in die Öffentlichkeit dränge oder sogar lieber im Verborgenen operiere. (S. 17)
Trotz dieser gegenwartsbezogenen Interpretation von Steiners Leben und Werk wirft Gebhardt den heutigen Anthroposophen vor, sie hätten sich wenig um die Weiterentwicklung von Steiners Lehren gekümmert. Dies veranlasst sie im Anschluss an den mehr als 250 Seiten starken biographischen Teil die wichtigsten und erfolgreichen Praxisfelder kritisch unter die Lupe zu nehmen. Hier fließen dann allerdings auch oft wenig begründete Urteile ein, etwa, wenn sie im Waldorf-Teil schreibt, Steiners Entwicklungsvorstellungen seien bereits zu seinen Lebzeiten überholt gewesen oder der Waldorfpädagogik gehe es um die „möglichst totale Kontrolle der Lebensbedingungen des Kindes“ ( S.286/287). Oder wenn sie Eltern empfiehlt, jede einzelne Waldorfschule müsse daraufhin unter die Lupe genommen werden, ob „das eigene Kind Literatur aus dem völkischen oder rassischen Giftschrank vorgesetzt bekommt“ (S.302), oder dort Lehrer zu finden seien, die mit derartiger Literatur ausgebildet würden.
Wie aber erklärt sich Steiners Wirksamkeit bis heute? Das war auch in den Biographien von Zander und Prof. Ullrich die ungeklärte Restgröße. Hier liefert Miriam Gebhardt einen Erklärungsansatz. Den Schlüssel zum Verständnis seiner lang anhaltenden Wirkung besäßen weder die Kritiker, die ihn dämonisierten, noch die Anhänger, die ihn vergöttlichten, meint sie. Der Schlüssel liege vielmehr „im Tatbestand der gekonnten Verkörperung eines modernen Guru.“ (S. 18) Eine Wertung verbindet sie damit nicht, weder im Positiven wie im Negativen. Die Frage nach Steiners moralischer Integrität und Glaubwürdigkeit überlässt sie offensichtlich lieber anderen Steinerexperten wie Helmut Zander, von dessen detailreicher Arbeit ihre Biographie in vielerlei Hinsicht profitiert.

In der Blütezeit der Lebensreform, also in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, habe ein hochdifferenzierter Wertepluralismus geherrscht, in dem wir uns heute wieder erkennen: Ein anderer Umgang mit Natur und Gesundheit, eine neue Erziehung sei bereits damals auf die Tagesordnung gesetzt worden als Reaktion auf die Industrialisierungsprozesse. Manches davon habe die Anthroposophie beigesteuert, ohne dass uns dies immer bewusst sei. Modern sei Steiner auch in seiner Ambivalenz zwischen Tradition und Gegenwart gewesen.
Als einen Antidemokraten will sie ihn nicht etikettieren, immerhin habe er von einer Schulreform und von genossenschaftlichem Zusammenarbeiten mehr soziale Gerechtigkeit erhofft (S. 13). Sein Motor seien die großen Fragen seiner Zeit gewesen. Gebhardt interessiert sich weniger für „Wahrheit oder Unwahrheit“ der Anthroposophie, sie will wissen, „was an Steiner heute noch lebendig ist.“ (S. 14)
Steiners geistig-seelische Beweglichkeit, sein Mut zur Improvisation und zum Experiment, seine Multiperspektivität, die dogmatischer Erstarrung permanent auswich, scheint Gebhardt zu faßinieren: „Er war alles andere als eine immer schon fertige und in sich schlüssige Persönlichkeit, der man in jedem Lebensabschnitt die spätere Karriere hätte ansehen können. Als zutiefst moderne Person nahm er sich wiederholt das Recht auf eine neuerliche Selbstfindung heraus.“ (S. 14)

Originell sind auch Gebhardts Kapitelüberschriften, die sich durchgehend am Vokabular der Eisenbahn orientieren, etwa „Im Wartesaal“ – „Signale“ – „Im Stellwerk“ – „Mit Volldampf“. Denn Steiner ist nicht nur in einem Bahnhof geboren: Einen Großteil seines Lebens verbrachte der umtriebige Reformer auf Reisen. Allerdings schießt Gebhardt mit dem locker journalistischen Stil auch an etlichen Stellen über das Ziel hinaus, wenn sie schräge Bilder verwendet, wie das vom „Schmiermittel“ des Vortrags, das den „Wissensgenerator auf Hochtouren“ laufen ließ (S.166) oder die Esoterische Schule „unter christlich-europäischer Flagge“ fahren lässt, wohingegen Annie Besant „in Buddhismus und Hinduismus machte“ (S.220).

Steiners Selbstzeugnissen begegnet Gebhardt nicht von vornherein mit Misstrauen. Dies ermöglicht ihr einen weiteren Blickwinkel. „Der moderne Prophet hat viele Leben“ resümiert sie am Ende des Buches. Würde er heute leben, so meint sie, wäre er ein Dauergast im Fernsehstudio. Und da säße er und entzöge sich der beliebten Freund-Feind-Zuordnung, das sich auf seine Anhänger genauso negativ auswirke wie auf seine Gegner. Ihnen allen schreibt Miriam Gebhardt eine noch ungelöste Aufgabe ins Stammbuch: Es gelte, Steiners Zeitgebundenheit und seine Aktualität gleichzeitig auszuhalten.

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