Spurensuche IV. Steiner spricht …

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. . . dieser sechzigjährige Jüngling. Der erste von der Konzertagentur Wolff & Sachs organisierte Vortrag Rudolf Steiners fand am 15. September 1921 in der Berliner Philharmonie statt. Das Thema lautete „Die Bedeutung der Anthroposophie in Wissenschaft und Leben der Gegenwart“. Der Vortrag war schon Tage vorher ausverkauft. Nach diesem Erfolg lud ihn die Agentur zu einer ganzen Tournee durch mehrere deutsche Großstädte ein. Steiner kam dieser Einladung im Januar 1922 nach. Eine weitere Tournee fand im Mai statt. Der Jugendbuch-Autor und Übersetzer Fritz Zielesch (1894-1971) hatte Steiners Septembervortrag besucht und schrieb darüber am 16. Sept. 1921 in der Berliner Volkszeitung

"Rudolf Steiner, der Begründer der „Anthroposophie“, der Verkünder eines neuen Staatslebens auf Grund der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ (Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben), der Führer einer nahezu internationalen Gemeinde, die in ihm ein universales Genie verehrt, der Philosoph, Staatsmann, Pädagoge und Künstler, dieser sechzigjährige Jüngling ist ein Zeitproblem nicht gewöhnlicher Art. Der Materialismus in Wissenschaft und Leben hat zu einer seelischen Ermüdung der Menschheit geführt. Der Versuch eines neuen Idealismus, dessen Wirkungskreis nicht auf das irdische Leben beschränkt bleibt, hatte in diesem Augenblick der Erdgeschichte viel Aussicht auf einen Erfolg. 

Sein Vortrag über „Die Bedeutung der Anthroposophie“ im großen Saal der Philharmonie brachte im allgemeinen nichts wesentlich Neues über seine Erkenntnisse. Wertvoll war jedenfalls sein Bekenntnis, daß ihm nichts ferner liege als eine Herabsetzung der materialistischen Naturwissenschaften, deren große Erfolge er vielmehr durchaus anerkenne. Aber bei diesen Erkenntnissen will er nicht stehen bleiben, weil er einsehen zu müssen glaubt, daß sie in ihrer ganzen Wesensartung nur eine Grundlage für weitere, andersartige Erkenntnisse sind, daß sie gleichsam nur den Körper des Wissens darstellen, der jedoch auch einer Seele bedürfe.Man hat Steiner sicherlich viel mißverstanden, oft falsch ausgelegt, sicherlich nicht immer sachlich bekämpft. Keineswegs darf sein Name, so betonte er leidenschaftlich, mit allen jenen obskuren Begriffen und Erscheinungen in Zusammenhang gebracht werden, die sich unter dem Titel „Okkultismus“ zusammenfinden. Was er will, das ist eine Steigerung und Verinnerlichung des Willens, die die Möglichkeit geben soll, über die bloße Denktätigkeit hinauszukommen. Das Denken soll im höchsten Sinn zum Schauen werden, zum Erschauen. Das erdhafte, mediumistische Erleben tue es freilich nicht. Dies müsse einer durch Verinnerlichung des Willens geschehenden übersinnlichen Erkenntnis, übersinnlichen Anschauung weichen. Und so rechne es zu seinen tiefsten Erschauungs-Erkenntnissen, daß das Denken einen Zerfallsprozeß darstelle, das Wollen dagegen einen Aufbauprozeß, wofür ihm wiederum Mond und Sonne als Gleichnis dienen.

Der intuitiv am Leben wirkende Mensch zerfällt leiblich mit dem fortschreitenden Prozeß seines Denkens. Aber in gleicher Zeit formt sein Wille das übersinnliche Bild seines Daseins, das man unsterblich, dauernd, gewesen und bleibend nennen mag. Das etwa ist der Sinn, der dahinter steht. Steiner schloß mit dem Gleichnis der römischen Weisheit „mens sana in corpore sano“ – „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. Die Naturwissenschaft ist ihm der Körper, die Geisteswissenschaft seiner Vorstellung soll diesem Körper Leben geben, Geist geben. In diesem Sinne erstebt er ein Zusammenarbeiten beider Wissenschaften, deren jeder er das Seine lassen will.

Das Phänomen Steiner läßt sich danach vielleicht im großen so deuten, daß ein hochkünstlerisch-schöpferischer Mensch, dessen Auswirkung noch nicht abzusehen ist, die gewöhnlichen Objekte des Schaffenden verlassen und ein neues Gebiet über den Naturwissenschaften gefunden hat. Hier wirkt sich seine Intuition in einer seltsamen Artung aus, ihre Ergebnisse (selbst die realer Art wie etwa seine „rationelle Therapie“) sind nicht beweisbar, ebenso wenig wie ein Kunstwerk beweisbar ist. Man mag es fühlen und daran glauben. Und damit erübrigt sich im letzten eine Gegnerschaft, denn wenn man auch der Intuition nachsagen kann, daß sie „optischen“ Täuschungen unterworfen sein mag, so läßt sich doch weder ein Für noch ein Wider beweisen. Über dem intuitiven Erkennen des Weltbildes durch Rudolf Steiner mag das Wort seines großen Vorbildes Goethe stehen „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Gleichnisse dieser höchsten Art aber sind dem Zugriff der exakten Wissenschaft entzogen.

Eine außerordentlich zahlreiche Hörerschar folgte den mit pastoralem Pathos vorgetragenen Ideengängen in gespannter Aufmerksamkeit. Kein Zwischenruf wurde laut. Wir wissen nicht, wie groß der Bruchteil war, der verstand, was hier verkündet wurde. Doch der Beifall war eine Huldigung für einen Menschen, der offensichtlich vielen zu einem Vorbild und zu einer Hoffnung geworden ist. Und wer das Publikum, das wohl zu zwei Dritteln aus Frauen bestand, eingehender betrachtete, der mochte entdecken, daß sich hier die Mühseligen und Beladenen eingefunden hatten, um ihrem Messias zu lauschen. In der weiteren Auswirkung der Steinerschen Anthroposophie wird es sich zeigen müssen, ob dieses willfährige Erleben eines Künstlers und seines Werkes durch eine große Menge zum Nutzen oder zum Schaden der Menschheit werden wird, ob man hinnehmen oder widerstreiten soll."

Dornach: Blick über die Dächer zum Goetheanum © Foto: Roland Zumbühl, www.picswiss.ch

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