"Wo Fußball nur zusammenhält,
doch selbst der Ball rollt nur fürs Geld,
lebt es sich leer in der Nation,
denn der Nation fehlt `ne Vision…"
aus Deutschlandlied/W. Herzberg
Eine Nachlese zur Fußball-Europameisterschaft
Ketzerische Gedanken von Wolfgang Herzberg
Was für ein immer wiederkehrendes, merkwürdiges Phänomen, diese Fußballeuphorie! Sei es innerhalb der Bundesliga, sei es bei internationalen Wettbewerben. Zweiundzwanzig, meist außerordentlich gut verdienende Männer laufen mit verschwitzen und finsteren Gesichtern einem Ball hinterher, um ihn möglichst trickreich ins gegnerische Tor zu befördern. Womit haben wir es hier zu tun? Was sind die gesellschaftlichen Hintergründe dafür?
Ich gestehe freimütig, auch ich kann mich, insbesondere bei Endspielen, der Faszination vom Fußballwahnsinn nicht entziehen, obwohl ich gleichzeitig weiß, wie verlogen das alles ist. Natürlich ist das immer noch besser, als sich mit Waffengewalt gegenseitig totzuschießen! Aber keine anderen gesellschaftlichen Ereignisse können in der Regel solche national-emotionalen Massenbewegungen vor und in den Stadien, auf Straßen, Plätze, in Bahnhöfen und Eisenbahnen, in Flugzeugen und natürlich in Medien und Parteien auslösen, wie diese Fußballmeisterschaften.
Das geschieht regelmäßig, seit vielen Jahrzehnten, scheinbar Nationen-, Klassen-, Schichten-, sogar Generationen- und Geschlechter- übergreifend, sehr viel mehr als Kämpfe von Gewerkschafts- und Berufsverbänden, Wahlkämpfe oder gar dringend notwendige Antikriegsbewegungen.
Diese offenbar Gemeinschaft stiftenden Ereignisse, wenn auch nur kurzfristig aufflammend, sind angesichts der Sorgen und Nöte, die die Mehrheit der daran Beteiligten alltäglich umtreibt, ziemlich bemerkenswert. Es scheinen willkommene, spannungsreiche Ablenkungshöhepunkte zu sein, wie etwa "Brot und Spiele" im alten Rom. Auch bei diesen heutigen Spielen werden Unmengen an Fastfood und alkoholischen Getränken konsumiert und die großen alltäglichen und politischen Sorgen scheinen kurzzeitig vergessen. Dazu sind diese Spiele offenbar immer noch gut geeignet, um grassierende Existenzsorgen, den Kriegs- und Umweltwahnsinn und all die uns bedrückenden, gesellschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten kurzzeitig noch weiter zu verdrängen, damit die Herrschenden ihr politisches Chaos und ihre Waffen- und Kriegsgeschäfte weiter betreiben können.
Was für eine Doppelmoral, wenn wir bedenken, dass da zugleich oft eine handvoll Millionäre auf den Plätzen dem Ball hinterherrennen, eingebettet in die Anteilseigner der Fußballindustrie, die davon in noch viel stärkerem Maße ihre Gewinne, etwa durch Verkäufe von Sport- und Fanartikeln, Fähnchen, Eintrittskarten, Medienrechten, Stadionmieten, Hotel-, Essen- und Getränkeeinahmen usw. abschöpfen.
So ist es nicht verwunderlich, dass diese gesamte Eigentümergesellschaft sehr daran interessiert ist, dass die Bälle kontinuierlich auf Trainingsplätzen und in Stadien, schließlich ins Eckige geschossen werden, damit dann bei einem Tortreffer schlussendlich kollektive Jubelschreie in den Himmel steigen können und die chaotische Welt so bleibt wie sie ist.
Für diesen momentanen, flüchtigen Genuss wird nicht nur den Fans, also den Massen, dabei das Geld aus den Taschen gezogen, sondern es wird damit auch indirekt suggeriert, dass alle in dieser Gesellschaft, ganz besonders die leistungsbereiten Jungen, wenn sie sich nur von Kindesbeinen an – anfangs unterstützt von den Eltern – abrackern, auch einmal die Chance haben, zu mehr oder weniger berühmten Millionären aufzusteigen. Ganz gleich, aus welcher Gesellschaftsschicht, Nation oder Ethnie diese Spieler auch ursprünglich gekommen sind. Das alles symbolisiert quasi die angeblichen Aufstiegschancen aller Menschen in der Gesellschaft, um zu Ruhm und Geld zu gelangen. Verdrängt wird dabei geflissentlich, welche hohen mentalen, körperlichen Preise und gesellschaftliche Kosten dafür bei diesen Gesellschaftsspielen gezahlt werden müssen.
Zugleich fungieren die Fußballstadien als Brutstätten des Regionalismus und vor allem des Nationalismus. Dadurch wird zusätzlich jenes Gift erzeugt, das es möglich macht, dass so etwas wie Klassenbewusstsein und Klassenkampf nicht wirklich mehr aufkommen kann. Aber es wird damit auch verdrängt, dass Fans, die den Fußballindustrieellen zu ihrem Reichtum verhelfen, ihr ganzes Leben lang überwiegend in der entgegengesetzten, oft untersten Unterliga, statt in der Oberliga spielen.
Die süchtig machende Fußballeuphorie verschleiert diese Zusammenhänge, wie es ja auch die Begriffe "Arbeitnehmer" und "Arbeitgeber" tun. Es ist auch hier umkehrt: die Fußballfans, die ihr schwer verdientes Geld für kurze Rauschmomente ausgeben, um ihr kleines Leben etwas glücklicher zu machen, finanzieren damit die Anteilseigner der Fußballindustrieellen, die dadurch ihre erheblichen Gewinne machen, die sie noch wohlhabender werden lassen, als sie ohnehin sind. Was sich aber hinter den Kulissen von Fans, Spielern und Fußballindustrieellen in Wirklichkeit an beinharten, gewalttätigen Konflikten abspielt, bleibt zumeist im Verborgenen.
Fazit: Der Fußball dient, wie die gesamte medial vermarktete Unterhaltungsindustrie zwei Hauptzwecken: sie sind Teil des Grundmechanismus des Kapitalismus, um die soziale und nationale Spaltung der Gesellschaft zu verschleiern und damit aufrechtzuerhalten, ja sie sogar noch mehr zu vertiefen und gleichzeitig Emotionen und Verstand der Mehrheitsgesellschaft auf den Konkurrenzkampf zwischen den Regionen und Nationen abzulenken, der immer auch in rassistische Züge und Gewalttätigkeiten auf Straßen und Stadien mündet, anstatt eine Solidarisierung der Unter- und Mittelschichten gegen die wohlhabenden Herrschaftsschichten zu fördern, die mit diesen euphorisierenden, nationalen Gemeinschaftsgefühlen munter ihre manipulativen Geschäfte und ihre Hegemonie absichern. Übrigens Hand in Hand mit den politischen Klassen und Leitmedien, die diese Gefühle zusätzlich erheblich befeuern und dabei auch ihre finanziellen und politischen Gewinne verbuchen.
Zugleich lenken diese meist multiethnischen Sportmannschaften, die diese verlogenen, nationalen Gemeinschaftsgefühle erzeugen, gleichzeitig davon ab, dass wir uns weltweit in einer kriegerischen Ausbeutungsgesellschaft von Bevölkerungsmehrheiten aller Nationen und unserer natürlichen Lebensgrundlagen befinden und wir uns dabei dramatisch in einem internationalen, kriegerischen und ökologischen Endspiel der Menschheitsgeschichte befinden.
foto von Gerd Altmann / Pixabay
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Super Artikel!
Es gibt auch kommunistische Fussballexperten.
Shakespeare + Fussball = Revolution
https://m.youtube.com/watch?v=ifada-guskQ
«The end crowns all,
And that old common arbitrator, Time,
Will one day end it.»
(Troilus and Cressida, Act 4, Scene 5)