Der lange Weg zum Krieg. Nüchterne Analysen, Daten und Fakten zu einem brennenden Problem.
von Michael Mentzel
Egal, wo wir hinschauen, im Hinblick auf Ursachen und Hintergründe des Ukrainekriegs scheint es derzeit für viele Menschen nur eine Sichtweise zu geben. Putin und Russland sind das Böse schlechthin. Zweifel daran werden kaum zugelassen und tagtäglich werden wir in den einschlägigen Fernseh-Nachrichtensendungen und vermittels der Printmedien auf das gängige Narrativ eingeschworen. Somit sind wir Zuschauer und Zeugen einer immer stärker werdenden Eskalation: "(…) eine beängstigende Einheitsfront von Meinungsführern und Meinungsmachern in Politik, Medien und Gesellschaft verweigert sich jedem Diskurs, sabotiert ihn geradezu. Wieso waren diejenigen, die einen Krieg beenden wollen, plötzlich 'Putinversteher', 'nützliche Idioten', 'Handlanger Russlands' oder 'Lumpenpazifisten'?". Das fragen Petra Erler und Günter Verheugen in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg".
In der Tat eine berechtigte Frage, die sich so manchem Nachdenklichen anlässlich der Forderungen nach immer mehr Waffen und einer nach Ansicht der Kriegsbefürworter dringend benötigten Kriegstüchtigkeit schon von Beginn an gestellt hat. Warnende Stimmen aber – wenn sie überhaupt zu Wort kommen – wurden und werden immer noch überhört oder in Talkshows mehr oder weniger als naive Spinner dargestellt.
Dass es möglich ist, einen anderen Standpunkt als den des allgegenwärtigen Mainstreams einzunehmen, beweist nun das im Heyne Verlag erschienene Buch von Günter Verheugen und Petra Erler mit dem Titel "Der lange Weg zum Krieg". Auf 335 Seiten (inkl. eines umfangreichen Quellenverzeichnisses) analysieren die Autorin und der Autor die Vor– und Entstehungsgeschichte dieses Konfliktes, der nicht erst im Frühling 2022 mit dem Einmarsch der russischen Truppen begann und den die Autoren in ihrem Vorwort unter Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen "ausdrücklich" verurteilen: "Nicht, weil es sich um eine Agression auf europäischem Boden handelt, sondern weil wir jede völkerrechtswidrige Kriegshandlung ablehnen." Das Credo der Autoren: Die Charta der VN sei das wichtigste Regelwerk der Weltgemeinschaft "und Frieden nur dann möglich, wenn die Sprache des Rechts herrscht und nicht die Sprache der militärischen Macht."
Petra Erler und Günter Verheugen sind alles andere als naive Zeitgenossen, beide haben eine jahrzehntelange Erfahrung auf dem Gebiet der Europapolitik und der internationalen Beziehungen. Auch wenn sie zu Beginn ihres Buches deutlich machen, dass Russland "unbestreitbar am 24. Februar 2022 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" gestartet habe, weisen sie darauf hin, "dass Russland nicht als einziges Land das Kainsmal eines Agressors und Völkerrechtsbrechers auf der Stirn trägt." Wer oder was damit gemeint ist, liegt auf der Hand und bereits diese Aussage dürfte bei den bundesdeutschen Sofa-Militärstrategen zu einem empörten Aufschrei führen: Stichwort Whataboutism.
Gleichwohl kommen wir nicht darum herum, bei der Betrachtung der Hintergründe dieses Konfliktes insbesondere auch die westliche Rolle näher beleuchtet zu sehen. Das tun die Autoren auf eine beeindruckende Weise. Kenntnis– und detailgenau beschreiben sie in ihrem Buch die Entwicklung und die Hinleitung zu der aktuellen Situation, die das Zeug zu einer Eskalation in sich trägt, die Europa in Schutt und Asche legen könnte.
Die beiden Autoren analysieren und beschreiben nüchtern und mit einem klaren Blick auf die geopolitische Weltlage, wie die westliche, insbesondere die US-amerikanische Politik, Russland zu einem Hort des Bösen und den russischen Präsidenten Putin zu einem zweiten Hitler oder Saddam Hussein gemacht hat, dessen imperialer Machthunger schier unersättlich erscheint.
Der Kalte Krieg ist vorbei?
Wer zum Ende der 1980er-Jahre glaubte, dass der Kalte Krieg vorüber wäre und wer der Mär vom Ende der Geschichte vertraut hatte, war auf dem Holzweg, denn bereits 1992 wurde der Machtanspruch der USA durch die so genannte "Wolfowitz-Doktrin" zementiert (nie wieder sollte der Aufstieg einer anderen Macht zugelassen werden, die den Machtanspruch der USA gefährden könnte); einige Jahre später legte Zbigniew Brzezinski mit seinem "The Grand Chessboard" nach und erklärte in seinem Text, "wie es den USA gelingen könnte, die 'einzige Weltmacht zu bleiben: durch die dauerhafte Kontrolle Eurasiens.' "
Detailliert werden die ersten NATO-Osterweiterungen (ab 1997) und deren Folgen beschrieben. Es kamen "Länder ins Bündnis, die schwierige eigene geschichtliche Erfahrungen mit dem zaristischen Russland und mit der Sowjetunion hatten, die eins zu eins auf Russland übertragen wurden. (…) Wenn man erst einmal dem Kreis der Sieger angehört und es keine Geschichtsaufarbeitung gibt, dann fallen die eigenen geschichtlichen Probleme unter den Tisch , und das, was historisch am anderen schmerzt, wird in den Vordergrund geschoben."
Als die NATO 2008 beschloss, sich für eine spätere Mitgliedschaft der Ukraine und Georgien zu öffnen, gingen in Russland die roten Lampen an. Das Recht, der Länder, sich eine eigene Sicherheitsstruktur zu wählen, wurde zwar nicht in Frage gestellt, aber es wurde auf "reale Konsequenzen" hingewiesen: Russland könnte unter Umständen gezwungen sein aus eigenen Sicherheitsinteressen seine Atomwaffen auch auf die Ukraine zu richten." Außerdem befürchtete Putin, es könne in Sewastopol eine Nato-Basis entstehen.
Innenpolitisch stand der ukrainische Präsident Janukowitsch im Fokus. Das Problem war, dass er sich zum Leidwesen der ukrainischen Opposition sowohl für Russland als auch für den EU-Assoziierungsvertrag stark machte. Es kam zu Protesten, die schlussendlich zum Euro-Maidan und zum Putsch gegen Janukowitsch führten. Beleuchtet wird die Eskalation der Auseinandersetzungen auf dem Maidan, die unter anderem durch die Intervention westlicher Politiker wie Victoria Nuland ["f… the EU"] noch verschärft wurden.
Weitere der insgesamt 9 Kapitel beschäftigen sich mit der Situation der Siegermächte nach 1945, den Jalta-Verabredungen und der Gründung der Nato, dem Beginn des Kalten Krieges. Das "ideologische und das militärische Element [spielten] die dominierende Rolle". Zwei Atommächte standen sich gegenüber und die Pattsituation führte dazu, dass der Westen sich nicht militärisch in die Angelegenheiten der Sowjetunion und deren Interventionen einmischte. Der kommunistischen Machtübernahme in Polen und der Tschechoslowakei, dem Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, dem Einmarsch in Ungarn und auch dem Bau der Berliner Mauer wurde "tatenlos zugesehen". 1963 versuchte J. F. Kennedy, einen neuen Weg der Zusammenarbeit und der Verständigung zu finden. Er wurde ermordet und erst Mitte der 1980er-Jahre gab es durch Gorbatschow neue Abrüstungsinitiativen und den zweiten Versuch, die Zusammenarbeit der beiden Großmächte auf neue Gleise zu setzen: "Er [Gorbatschow] ging davon aus, dass die Sowjetunion gemeinsam mit den USA in ein friedliches Zeitalter eintreten könnten, indem sie einen gleichberechtigten Platz in einem 'gemeinsamen Europäischen Haus' einnehmen und sich ihre Sicherheitsinteressen mit denen aller anderen Staaten organisch verbinden würden."
Wäre ein schneller Frieden möglich gewesen?
Bereits kurz nach Beginn der russischen Agression wurde versucht, durch Verhandlungen ein schnelles Ende der Kämpfe herbeizuführen. "Wie es schien, waren auch die Ukraine und Russland willens, den bewaffneten Konflikt auf dem Verhandlungswege schnell zu beenden." Vermittelt vom ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett und dem türkischen Präsidenten Erdogan gab es Gespräche in Minsk, die später in Ankara fortgesetzt wurden. Auch Bundeskanzler Scholz war daran nicht unbeteiligt, wie in den Verlautbarungen der amtlichen Pressemitteilungen des Kanzlers nachzulesen ist. Diese Gesprächsdiplomatie blieb allerdings erfolglos, denn obwohl noch am 7. März 2022 das Ergebnis eines Telefonats zwischen Olaf Scholz, Jo Biden, Boris Johnson und Emmanuel Macron festgehalten wurde, dass sie sich darüber einig waren: "dass jedwede diplomatische Anstrengung zur Überwindung der Krise Unterstützung verdiene.", sucht man eine solche Formulierung "in der offiziellen Erklärung des G-7-Treffens am 24. März 2022, das unter deutschem Vorsitz stattfand, bereits vergeblich."
Ein paar Tage später standen die Zeichen auf regime-change. Jo Biden am 26. März in seiner Grundsatzrede in Warschau: "In Gottes Namen, dieser Mann [gemeint ist Putin, Anm. d. Aut.] kann nicht mehr an der Macht bleiben." Obwohl das Weiße Haus umgehend dementierte, stellte sich bald heraus, dass der Gedanke sehr wohl "zu den seit Monaten verfolgten strategischen Zielen der USA gehöre, 'diese Invasion zu einem strategischen Fehlschlag für Russland zu machen '."
Sanktionen, Sanktionen ….
Der gezielte Versuch, Russland mit Hilfe der drastischen Sanktionen "von der globalisierten Wirtschaft abzutrennen", so die Autoren, ist gescheitert. Der Plan war, "den wirtschaftlichen Ruin Russlands herbeizuführen". Dies sei von der deutschen Außenministerin am 25. Februar 2022 auch offen ausgesprochen worden. Die Macher der dann in Kraft getretenen Sanktionsspirale hatten sich allerdings verkalkuliert, weil sie geglaubt hatten, an die 2014 verhängten Sanktionen, die Russland einigermaßen zugesetzt hatten, anknüpfen zu können. "Wenn man (…) an den neuralgischen Punkten des Jahres 2014 anknüpft, und mit noch größerer Härte verfährt, wird es schon werden". Das Fatale war, dass die Veränderungen, die in Russland seit 2014 stattgefunden hatten, nicht in die Überlegungen einbezogen wurden: Trotz der klaren wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens lief nichts wie gedacht. "Der Ruin Russlands blieb aus. Offenbar waren Vorstellung und Realität zwei verschiedene Dinge."
Es werden dann die "Bumerang-Effekte" für Deutschland und die Welt beschrieben, die der Plan, Russland in die Knie zu zwingen, mit sich brachte. Fazit: "Die Entscheidung der EU, sich im Konflikt mit Russland ohne Wenn und Aber auf die Seite der USA zu stellen, zeitigte schwere Folgen für ihre internationale Handlungsfähigkeit." Die EU wurde Partei in diesem Konflikt und schied damit als politischer Mittler aus. Verheugen/Erler: "Es hat nicht den Anschein, dass das der EU oder gar Deutschland von Anfang an vollständig bewusst war."
Das Buch bietet den Lesern und Leserinnen reichlich Stoff zum Nach- und vor allem auch zum Mitdenken und rückt so manche Information, deren Evidenz nach Ansicht der Wortführer der "Kriegstüchtigkeit" [besser hier: "Kriegssüchtigkeit" d. Red.] unhinterfragbar ist, in ein richtiges Licht, indem es Zusammenhänge aufzeigt, die Interessen offenlegt und damit den "langen Weg" zum Krieg nachzeichnet. Die Erkenntnisse der Autoren sind bedenkenswert und werden – so die Hoffnung des Rezensenten – so manchem die Augen öffnen.
Ceterum censeo
Der Rezensent neigt dazu, manchmal Inhaltsangaben vorzulegen, die den Kauf eines solchen Werkes überflüssig machen. (So sagen hin und wieder jedenfalls wohlmeinende Kritiker) Dies sei hier ausdrücklich angemerkt. Dabei sind es diesmal gar nicht soo viele Zitate.
Gleichwohl: Wir geben an dieser Stelle eine ausdrückliche Leseempfehlung! Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, denn die Zeiten sind rau und es steht zu befürchten, dass sie noch rauer werden. Auch hätte er (der Autor dieser Zeilen) nicht geglaubt, dass er einmal dem Spruch eines ehemaligen Kanzlers unserer schönen Bundesrepublik, in der er gut und gerne noch ein wenig leben möchte, nachtrauern würde, der da lautete: "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen!" Es wäre vielleicht ein Anfang.
Hervorragende Beiträge zum Zeitgeschehen finden Sie auch auf dem Blog von Petra Erler: https://petraerler.substack.com
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Ja
Sehr interessant und lesenswert.
»Das Buch von Verheugen und Erler ist akribisch und furios. Es zeigt die Fehler der amerikanischen und der europäischen Anti-Russland-Politik in furchterregender Klarheit.
Es entlarvt die Kriegslügen aller Seiten. Es beklagt, wie bereitwillig sich auch Deutschland in den Ukraine-Krieg hineingeworfen hat.
Das Buch ist ein Vademecum für jeden, der den Weg zu zuverlässiger Sicherheit sucht.
Und es ist zugleich ein Lehrbuch der Staatskunst, weil es die Fehler auflistet, die nicht gemacht werden dürfen, wenn man den Frieden will. Man spürt Seite für Seite die außenpolitische Erfahrung und das diplomatische Geschick, die den Autoren die Feder führten.«
(Heribert Prantl)